Materialien 1987
Gauweilers Richter: Zwei Jahre Gefängnis für HIV-Positiven
Bisher gab es ihn ein dreiviertel Jahr nach Schöpfung des Maßnahmenkatalogs noch nicht, den „Desperado“.
„Desperados“ sind HIV-Träger, die nach Gauweilers Phantasie absichtlich und vorsätzlich andere mit dem AIDS-Virus anstecken. „Desperados“ seien so gefährlich, dass allein ihretwegen der Maß-
nahmenkatalog gemacht werden musste, behauptet Gauweiler.
Der schwarze, homosexuelle Amerikaner Linwood B. wurde am Montag, den 16. November 1987 in Nürnberg wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde ver-
urteilt, weil man endlich einen „Desperado“ brauchte. Er wurde verurteilt, weil der Richter am Landgericht Nürnberg-Fürth Adolf Kölbl der Meinung ist, dass die von den AIDS-Hilfen und der Bundesgesundheitsministerin herausgegebenen Richtlinien zur Verhinderung der Weitergabe des HIV-Virus unbrauchbar sind. Wer sich an Frau Süßmuth hält, muss in Bayern damit rechnen, als „Desperado“ abgesondert zu werden. Er muss damit rechnen, dass sein Leben, wie das von Lin-
wood B. zerstört wird, der als HIV-Virusträger den sicheren Tod vor Augen hat.
Seit Juni 1986 weiß der Angeklagte von seiner Infektion. Er wurde von seinem Arzt über Verhal-
tensregeln aufgeklärt. Da dieser allerdings den Verdacht hatte, dass Linwood B. sich nicht daran hält, benachrichtigte er die US-Regierung und die Nürnberger Staatsanwaltschaft. Damit brach der Arzt die Schweigepflicht und machte sich strafbar. Die Meldung versetzte die ermittelnden Behör-
den sofort in hektische Betriebsamkeit, ging es doch darum, endlich einen dieser vielbeschworenen „Desperados“ einzufangen.
Die Polizei zog mit dem Photo des Angeklagten („Dieser Mann hat AIDS“) durch Bordelle und Schwulentreffs. Sie verletzte die Menschenwürde des Amerikaners. Ergebnis: Ein Spanier, der schon zwei Monate vor der Begegnung mit Linwood B. HIV-positiv war, verwickelte sich bei der Verhandlung am 16. November so in Widersprüche, dass er als Zeuge unbrauchbar war. Ein deut-
scher Kraftfahrer, der Sexualkontakte mit dem Angeklagten hatte, sagte aus, dass dieser sich an die safer-sex-Richtlinien der AIDS-Hilfen gehalten habe. Kein Grund für den Richter, aus dem Zeugen nicht noch die Aussage herauszupressen, dass Linwood B. zum „Analverkehr auch ohne Kondom bereit gewesen sein soll.“ Ein dritter Zeuge ist unauffindbar. Er firmiert in den Akten als „unbe-
kannter Italiener“. Er ist dafür der wichtigste. Denn mit ihm soll Linwood B. „Analverkehr ohne Kondom begonnen, mit Kondom fortgesetzt haben“. (Wir zitieren diese Sätze sehr ungern, weil sie das Sexualleben des Angeklagten auf ekelhafte Weise in den Schmutz ziehen.)
Was hat Linwood B. verbrochen?
Er hat nachweislich niemanden angesteckt.
Er hat sich an die Verhaltensregeln der AIDS-Hilfen gehalten.
Seine schwersten Vergehen sind, dass er schwul und schwarz ist, und dass er als HIV-Infizierter aber gesunder Mensch Geschlechtsverkehr hatte.
Was hat Richter Kölbl geurteilt?
Herr B. habe dreimal ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt, was durch nichts bewiesen
ist. Im Gegenteil: Zwei Gutachter hatten „nicht mit letzter Sicherheit bestätigen wollen“, dass die angewandten Sexualpraktiken „tatsächlich einer Übertragung von AIDS förderlich“ sein könnten. (SZ, 17. November 1987)
Der Richter nimmt an (!), dass Herr B. zum ungeschützten Analverkehr bereit gewesen sei.
Er verurteilt ihn deshalb wegen versuchter schwerer Körperverletzung.
Wofür wird Linwood B. eingesperrt?
Er wurde zum lebenden Beweis für die Existenz von „Desperados“ gemacht.
An ihm wird der Öffentlichkeit vorgeführt, wie die im Maßnahmenkatalog angekündigte „Absonderung von Uneinsichtigen“ aussieht.
50 Jahre nach den Nürnberger Rassegesetzen ist in Nürnberg nun erneut ein Mensch verurteilt worden für das Verbrechen, dass sein Sexualleben nicht einer von der Staatspartei definierten „Norm“ entspricht. Das ist das einzige Verbrechen, um das es in dem Urteil ging. Es braucht keine HIV-Infektion. Juristisch und medizinisch existiert kein Tatbestand.* Verurteilt wird wegen der willkürlichen Zurechnung zur von Gauweiler geschaffenen Kategorie „Desperado“. Vor 50 Jahren war es das Verbrechen, als jüdischer Mensch Geschlechtsverkehr mit „gesunden Ariern“ zu haben:
„Die große Strafkammer verurteilte wegen Rassenschändung einen 39-jährigen Juden zu zwei Jahren Gefängnis. Der Angeklagte verkehrte nach Inkrafttreten der Rassegesetze mit einer in der Altstadt wohnenden arischen Dirne. Das Gericht, das auch auf drei Jahre Ehrverlust erkannte, betonte, dass das Gesetz keine Ausnahme kenne.“ (Frankfurter Generalanzeiger, 1. April 1936)
Wir haben aus der Geschichte gelernt: Rassismus ist stets nur vordergründig gegen eine Rasse gerichtet – seinem Wesen nach heißt er die Zerstörung der Demokratie zur gewaltsamen Unter-
drückung der Opposition. Zum „Desperado“ kann schon heute jeder erklärt werden, der sich dem bayerischen Zwangsmaßnahmenkatalog widersetzt, einen Zwangstest verweigert oder sich nur
(so wörtlich) „uneinsichtig“ zeigt. Das Nürnberger Unrechtsurteil trifft uns alle: Mit ihm prescht Bayern voraus im Abbau der Demokratie – wie schon so oft.
- Wer gehört angeklagt?
Es gibt nun Menschen, die meinen, wenn Linwood B. tatsächlich jemanden angesteckt hätte oder es versucht hätte, wäre das ein Grund, ihn gerichtlich zu bestrafen. Wir meinen: In solch einem Fall gehört auf die Anklagebank ein Herr Gauweiler, der konsequent jede medizinische Aufklärung über Sexualität unterdrücken lässt und damit die politische Verantwortung trägt für die weitere Verbreitung von AIDS. Wir meinen: Auf die Anklagebank gehören jene, die wissentlich 6.000 Bluterkranke mit AIDS infiziert haben, weil sie sich aus der Verwendung der billigeren, infizierten Blutkonserven Profit versprochen haben. Wir meinen: Wer HIV-Infektionen zum Straftatbestand machen will, der macht zu Tätern gerade die Opfer einer Politik, die unter dem Vorwand der AIDS-
Bekämpfung Millionen zur Aufrüstung der Polizei ausgibt, für die Erforschung und Besiegung der Krankheit aber nichts übrig hat. Und angeklagt gehören nicht zuletzt jene, die dieser Politik einen „wissenschaftlichen“ oder „juristischen“ Segen verleihen, wie Gauweilers Leibprofessoren Spann, Zöllner, Gallwas, wie Richter Adolf Kölbl.
Demokratischer Informationsdienst 67 vom Januar 1988, 3 ff.