Materialien 1988

Die Achse München - Palermo

Aber natürlich schaffen wir es durchaus, auch in diese triste Lage bayerische Eigenart einzubringen – und hier war das Vorbild des Großen Vorsitzenden überaus wirksam. Es konnte nicht ausbleiben, dass in dem verzweigten Grabensystem, das die Hegemonie der Staatspartei schuf und befestigte, die Werte- und Unwert-Ströme des Ökonomismus ziemlich freizügig hin- und herschwappen: zwi-
schen Wirtschaft, Justiz und Verwaltung, zwischen Instituten und Institutionen, unter- und ober-
halb der Kriminalitätsschwelle. Vieles daran ist älter als die CSU-Herrschaft. Ruederer hat schon recht präzis das Spezltum Münchens vor dem Ersten Weltkrieg beschrieben, und kein Honoratio-
renwesen hat sich je durch besondere Unbestechlichkeit ausgezeichnet. Dennoch: Was sich in der Ära Strauß hierzulande herausbildete, hat schon seinen ganz eigenen Hautgout. Der regierende Münchener Oberbürgermeister kann, ohne verklagt zu werden, die CSU als »Gewinnerwerbs- und Verteilungsverein in folkloristischer Umhüllung« bezeichnen, man kennt und schätzt die Kette großer und kleiner Skandale, die sich im Grabensystem fortsetzt, und die – etwa im Gegensatz zu den Düsternissen der nordischen Barschel- Tragödie – fast immer etwas bezwingend Operetten-
haftes an sich haben. Da geht’s um einen frommen Bankdirektor in den Fängen einer knallharten Geschäftsdame, um einen bankrotten Backhendl- König, um eine millionenfach illegal subventio-
nierte Käseschachtelfabrik – all das schreit geradezu nach Dramatisierung durch Feydeau oder Vertonung durch Leo Fall.

Aber Spaß beiseite – denn er gehört wirklich beiseite. Das Unheimliche daran ist, daß der Große Vorsitzende, solange er lebte, all dies in einem Format betreiben konnte, das seinen Nachfolgern sofort nach seinem Ableben zum Verhängnis wurde. Es war ein offenes Geheimnis, wie viele un-
bequeme Finanzbeamte in jener Ära von belastenden Dossiers durch Versetzung und/oder Beför-
derung getrennt wurden; wie viele Richter wegen unbequemer Wahrheitsfindung etwa an die So-
zialgerichte versetzt wurden. Zeitzeugen, die keineswegs der gesellschaftlichen oder politischen Opposition angehören, behaupten, dass in jener Ara etwas eintrat, was Bayern bisher trotz allem erspart geblieben war: eine weitgehende Korruption der Verwaltung. Man kann (oder konnte) das bayerische System als die Achse München-Palermo beschreiben: Was der hiesigen Ehrenwerten Gesellschaft allenfalls an krimineller Entschlossenheit fehlte, wird durch die nördliche Kohäsion und Funktionsfähigkeit der amtlichen Institutionen ausgeglichen. Bayern vereint, so könnte man sagen, das Beste beider Welten …

Und die Wähler wählen wacker weiter. Es liegt auf der Hand: Es geht um die Macht der Patrone. Und diese Macht wird durch nichts schlagender bewiesen als durch die kriminelle Energie dieser Paten. Das System lebt in voller Harmonie mit seinen Untertanen.


Carl Amery, Leb wohl geliebtes Volk der Bayern, München/Leipzig 1996, 241 f.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: CSU

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