Materialien 1988

Autonomie gegen Integration

Gesellschaftliche Integration der Frauen und Mädchen und Gleichstellung mit dem Mann stehen politisch auf dem Programm der herrschenden Parteien. An der „Frauenfrage“ kann kaum noch jemand vorbei, wenn nicht alle Scheuklappen aufgesetzt sind – bloß: mit welcher Zielrichtung wird die Frage angegangen? Vor dem Hintergrund welcher Wahrnehmung der Frauensituation? Wir haben den Eindruck, dass Parteien und Institutionen zur Zeit Frauen und Mädchen in ihre Pro-
gramme in erster Linie deshalb einbeziehen, um das weibliche Wählerpotential zu gewinnen, weniger um sich tatsächlich an den Interessen der Frauen zu orientieren. Denn eine Orientierung an den Interessen von Frauen und Mädchen würde eine Umorientierung des gesamten Gesell-
schaftskonzepts bedeuten – eine Abschaffung patriarchalischer Strukturen und davon sind wir noch sehr weit entfernt.

Durch die immer häufiger lautwerdende Thematisierung der Frauensituation soll wohl in der Öf-
fentlichkeit bei manchen der Eindruck entstehen, Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt gegen Frauen seien Überbleibsel aus vergangenen gesellschaftlichen Strukturen; gelegentlich wird bereits von „Postfeminismus“ gesprochen – die Frauenbewegung also habe sich überholt, sei über-
flüssig geworden, die Gleichstellung mit dem Mann sei auf besten Wege.

Abgesehen von brutaler körperlicher und sexueller Gewalt gegen Frauen, die eher anzuwachsen scheint, nehmen Diskriminierung und Ausbeutung von Frauen zunehmend subtilere, verstecktere Formen an. Als Frau wirst Du scheinbar geachtet, gefördert und angeblich steht Dir der Weg in jede gesellschaftliche und berufliche Position offen: faktisch ist es keineswegs so: harte Kämpfe müssen ausgefochten werden und der Preis für Erfolg ist: Anpassung und Integration in die gege-
benen Strukturen. Folge ist in der Regel die Aufgabe autonomer Ziele.

Mary Daly schreibt in „Pure Lust“, Frauen in Institutionen seien Alibi-Feministinnen, und wir denken viel darüber nach. Wir erleben, wieviel Energien Frauen für die Anpassung, Integration und Identifikation – wenn sie auch nur scheinbar und vorgespielt sind – abgezogen werden und wir haben eine Vision vor Augen, dass Frauen in allen gesellschaftlichen Positionen sitzen, aber: vergessen haben, was Frausein und Frauenstärke bedeuten kann, die patriarchalen Strukturen und Ziele, Umgangsformen akzeptiert haben, nur, um „partizipieren“ zu können. Die Weigerung vieler Frauen sich auf Institutionen einzulassen, die Phase der „Aussteigerinnen“ hatte ihren klaren Sinn. Heute erleben wir eher eine Phase des „Einsteigens“ mit der Hoffnung, innerhalb der Institutionen unsere Forderungen einzubringen, unsere Strukturen zu realisieren, die Gesellschaft Stück für Stück zu erobern. Wir lernen mit Geld umzugehen, öffentliche Gelder für Frauenprojekte zu for-
dern und uns Sozialarbeit angemessener bezahlen zu lassen. Wir lernen uns vom staatlichen „Kuchen“ etwas zu „holen“, unseren Anteil zu beanspruchen.

Außerhalb der Frauenbewegung treten die Karrierefrauen und die Unternehmerinnen ins Bewusst-
sein der Öffentlichkeit. Frauen haben einen anderen, weicheren Führungsstil, heißt es; die Unter-
nehmen von Frauen sind finanziell stabiler, Frauen gehen weniger Risiko ein, setzen mehr auf Si-
cherheit. Die Frau kann ja dasselbe leisten wie der Mann, heißt es gönnerhaft. Manche scheinen sich nun eine Rettung von den Frauen zu erhoffen: eine Rettung vor der totalen Umweltzerstörung, in der gesamten verfahrenen Situation politischer Fehlentscheidungen und wirtschaftlicher Fehl-
produktionen. Bloß: als Frau mit radikalen neuen Konzepten lassen sie dich doch nicht ran und halten wir es andererseits bisher auch nicht aus innerhalb der entfremdeten institutionellen Struk-
turen.

Dass Anpassung und Integration „der Frauenfrage“ zur Zeit so leicht von der Hand gehen, weist uns daraufhin, dass der autonome Sektor zu schwach ist, dass keine ausreichende Basis geschaffen wurde, um in den Institutionen nicht unterzugehen. Nur durch eine enge Anbindung an eine starke autonome Basis kann der negative Prozess von Anpassung und Integration verhindert werden; können wir unseren Utopien näher kommen von Leben, Arbeiten, Lieben, Umgang mit Natur-Ressourcen, Produktion, Kreativität, Verhalten.

Die Verstärkung der Autonomie halten wir daher für eine vorrangige Forderung an uns selbst: unsere Kenntnisse im Umgang mit Institutionen und Geldbeschaffung für unsere Autonomie einsetzen und nicht umgekehrt: unsere Autonomie aufgeben für Posten, Geld und soziale Sicher-
heit. Um die Prozesse im Auge und im Bewusstsein zu behalten, brauchen wir Foren der Ausein-
andersetzung, brauchen wir Räume, Freiräume. Wenn wir vom Frauennetzwerk aus zur Arbeits-
situation beispielsweise fordern (wie auf dem Kongress: Frauenprojekte-Frauenmacht-Frauen-
land), dass Frauen alle gesellschaftlichen Bereiche besetzen, sich Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung sämtlicher Funktionen aneignen sollen, die ein vollständiger Gesellschaftsprozess erfor-
dert, so haben wir damit im Auge, soweit wie möglich autonome Lebensbereiche zu schaffen, die Aneignung von Wissen, die Weitergabe und Ausübung von Fähigkeiten soweit wie möglich selbst-
organisiert zu betreiben – in Zusammenhängen, in denen wir weitestmöglich die Bedingungen bestimmen und beeinflussen können. Wir wollen immer mehr Bereiche schaffen, in denen dies möglich ist – Geld aus sicheren Positionen in entfremdeten Apparaten in die Stärkung und Absi-
cherung der autonomen Sektoren als „befreite Gebiete“ stecken.

Die Integration ist eine neue Form der Zerstörung unserer Identität und der Spaltung unserer Interessen. Integration will unsere Fähigkeiten – nun nicht mehr geleugnet – umso effektiver für patriarchale Machtausübung einsetzen. Und es läuft schon zu vieles nach diesem Konzept!

Entpolitisierung durch Staatsknete?

Wenn wir unsere Projekte schaffen, um unsere Bewegung abzusichern, dann bedeutet dies in der Regel praktisch, dass wir unser Geld umverteilen, um die Arbeit zu bezahlen, die niemand anderes als wir fördern kann und wird: die politische Arbeit in unserem Interesse! Das ist ja der Grundge-
danke der alternativen Finanznetzwerke. Damit schaffen wir auch Arbeitsplätze – aber wir ziehen unser Geld auch wieder zurück, wenn wir unsere Interessen da nicht mehr vertreten sehen, klar!

Ein neuer Faktor in der Alternativbewegung ist die Möglichkeit, mit öffentlichen Geldern zu arbei-
ten: ABM, Selbsthilfeinitiativfonds der einzelnen Städte, Regelförderung … die Kenntnis wächst, wie an ‚Staatsknete’ zu kommen ist, die Bereitschaft wächst, sich den Anteil an Steuergeldern zu holen, statt dass alles in uns feindlich gesonnene Institutionen und Maßnahmen geht. Das Geldvo-
lumen in der alternativen Szene wird größer und der Staat nennt seine neue Förderungsbereit-
schaft: die Unterstützung der Selbsthilfekräfte des Volkes. Tatsächlich geht der größte Batzen der verfügbaren Gelder in karitative Zusammenhänge, in denen der Staat von Aufgaben entlastet wird, zum Billigtarif und mit großem ehrenamtlichen Anteil.

„Ehrenamtlich“ heißt es neuerdings auch in Bewegungen, seitdem es da bezahlte Arbeitsplätze gibt – und das muss hellhörig machen! Wir dürfen nie vergessen, dass der „Inifonds“ eine Idee der Bonner CDU war!! – und eine sehr schlaue! Wenn deren Rechnung aufgeht, wird das Geld, die Staatsknete, die politischen Bewegungen killen! Wir können beobachten, dass mit ABM-Geldern und -stellen manchenorts eine Lohnarbeitsmentalität und eine Arbeitgeberinnenmentalität in Projekte einzieht. Die Inhalte sind für manche auf diesen Stellen nicht mehr eine Frage der Politik – es ist ihr Job. Und abends gehen sie nicht mehr auf Versammlungen, in Gruppen, organisieren nicht Demos, Aktionen, verfassen keine Flugblätter, sondern sie gehen nach getaner Arbeit nach Hause, pflegen ihre Beziehungen, ruhen sich aus, mit einem Wort: sie werden bürgerlich und den Bewegungen droht das gleiche Schicksal, denn: immer weniger Leute sind bereit, was zu machen, wenn Du doch bezahlt wirst!

Plötzlich ist es so, dass du nur verwaltest, dass du dich nicht mehr bewegst und damit läufst du Gefahr, zum Tod der Bewegungen beizutragen. Die gesellschaftliche Integration der politischen Bewegungen schreitet voran! Neuerdings wirst du zu vielen Bündnisveranstaltungen eingeladen und du äußerst dich nicht mehr radikal, denn: vielleicht gibt’s dann nächstes Jahr die Gelder nicht mehr???

Der Geruch des Geldes zieht nun auch andere Leute an als früher, weckt andere Bedürfnisse in den früheren Leuten: schick sein, „in“ sein, sich was leisten können, – „toll“ misst sich zunehmend an der Geldausgabe, die Inhalte werden weniger interessant. Pochst du auf den alten bewährten In-
halten, erntest du manchmal nur ignorantes Lachen, erscheinst dir selbst als ein Relikt aus vergan-
genen Tagen und das macht dich traurig und verzweifelt und zornig.

Eine neue Projektbewegung ist aufgetaucht: die Staatsknete-Projekte. Das sind Vorhaben, die nur entstehen, weil es für bestimmte Inhalte gerade Gelder und Stellen gibt. Anfangs wurden solche Projekte noch geschaffen als willkommene Möglichkeit, Arbeitsplätze innerhalb der Bewegung zu schaffen, inzwischen haben sich viele dieser Vorhaben nahezu gänzlich verselbständigt: ABM-be-
rechtigte Frauen sind nun mal nicht unbedingt die Bewegtesten und manche Bewegte wird unbe-
wegt. Wir merken, dass wir nicht mehr unbedingt die gleiche Sprache sprechen: wenn wir regio-
nale oder überregionale Treffen von Projekten haben, ist es für manche schon bezahlte „Dienstzeit“ und „Dienstreise“, und wir beginnen uns zu langweilen mit Frauen, die Frauenbelange in staatlich bezahlter Lohnarbeit vertreten, die bloß noch gucken, ob sie für ihr Projekt was an Land ziehen können. Und wir streiten uns mit anderen, die nur noch wollen, dass „die Post abgeht“ – aber: autonome Politik? Was ist das? Etwas zum Essen?

Anita Heiliger


KofraInformationsdienst 26.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Frauen

Referenzen