Materialien 1988

Kunststück Zeit

Mitten in einem Arbeiterviertel des Münchner Ostens liegt das Stammwerk der Merk Telefonbau GmbH. Seit Anfang 1988 ist der Betrieb mit seinen 1.200 Beschäftigten hundertprozentig in den Fängen des Bosch-Kapitals. Die Arbeiter verschwinden weiterhin jeden Morgen in der Fabrik mit der grauen, heruntergekommenen Fassade. Für sie hat sich nichts daran geändert, außer dass seit Neuestern die gesetzlich geregelten freien Tage zur Betreuung eines kranken Kindes angerechnet werden. Das empört vor allem die Arbeiterinnen. Zum Beispiel jene, die drinnen am Fließband Telefonapparate montieren. „Wir produzieren bessere Verständigung am laufenden Band“, so um-
schreibt das eine Jubelschrift zum x-ten Gründungstag der Firma. Dort drinnen, wo dies also ge-
schieht, macht ein Röllchenband einen Höllenlärm, wenn die Paletten darüber rasseln. Wollen die Arbeiterinnen einige Worte wechseln, weil sie Mensch sein wollen und nicht Anhängsel der Ma-
schinerie, ist das gerade noch mit der Nachbarin möglich. Um eine Verständigung mit der über-
nächsten herzustellen, müssen sie den Arbeitsplatz verlassen. Die Frauen an diesem Band hier tun es. Aber das ist nicht überall so. Einfach aufstehen und sich strecken, dabei mit einer anderen rat-
schen, das könnte den Unwillen des Meisters auf sich ziehen. Der ist eine wichtige Instanz, ein Unteroffizier, von dem abhängt, ob die Frauen eine gute Arbeit bekommen, ob Zuschläge richtig berechnet werden, ob irgendwann eine höhere Lohngruppe drinnen ist. So manche bleibt trotz Lärm, Rückenschmerzen oder Zugluft sitzen und sieht zu, daß alles klappt.

Aber es klappt nichts. Die Aufschlagzahlung bei einer neuen Akkordberechnung wird einfach ver-
gessen. Montagefehler müssen in der Akkordzeit behoben werden. Wer seinen Urlaub später an-
meldet, muss einen Reisebürobeleg vorlegen. Als ob es jemals möglich gewesen wäre, dass alle mit einem Schlag Urlaub machen. Wer das Werk verlässt für einen Arztbesuch, muss sich einer ent-
würdigenden Befragung unterziehen. Als ob es keinen Tarifvertrag gäbe. „Du kannst dich auf nichts verlassen, du führst einen täglichen, zermürbenden Kleinkrieg.“ So beschreibt die 36-jährige Akkordarbeiterin M., Mutter zweier Kinder, ihren Arbeitstag. Sie ist seit sechs Jahren in diesem Betrieb. „Bei uns ist alles klar, wir da unten und die da oben. Wegen jedem Scheißdreck gibt es Ärger.“ Das kommt zum Zeitdruck, zur Daueraufmerksamkeit, zur Zwangshaltung noch dazu. 70 Prozent aller Arbeiterinnen in bundesdeutschen Fabriken sind im Leistungslohn, der so heißt, weil der Unternehmer und seine Büttel meinen, sich alles leisten zu können. Eine Untersuchung des DGB weist eine doppelte Frühgeburtenrate bei den Akkordarbeiterinnen nach, die Invaliditätsrate ist viermal so hoch. Am bewussten Fließband passierte ein Unfall, der in das Bild einer frühkapi-
talistischen Fabrik passt. An der Heißprägemaschine war die Beidhandbetätigung durch einen Fußauslöser ersetzt worden, ohne zugleich eine Sicherheitsabdeckung anzubringen. Fürs Kapital ein Zeitgewinn von Zehntelsekunden, für die Arbeiterin der Verlust eines Fingerglieds.

M. erinnert sich, dass die Arbeit vor fünf Jahren interessanter gewesen sei, jetzt sei sie „furchtbar monoton – und laut!“. Sie spricht von Kreislaufstörungen, nachts wacht sie auf, und die Seite, auf der sie liegt, ist gefühllos. In ihrer Abteilung sind die spezifischen Leiden der Akkordarbeiterin versammelt, wie Kreuzschmerzen, Augenschmerzen, Krampfadern. Alle Frauen haben die Helfer in der Schublade, die sie über den Tag retten: Aspirin oder Thomapyrin.

Es ist das Kapital selbst, das die Monotonie beseitigt, um eine andere, unter seiner Herrschaft grö-
ßere, Belastung einzuführen. Die Eigenschaft der Menschen, mehr leisten zu können bei abwech-
selnden Tätigkeiten, wird genutzt. Leiterplattenbestücken ist eine der schwersten Tätigkeiten hier. Die Frauen werden von einer Arbeit zur anderen getrieben. „Wir sind total flexibel, jede kann al-
les.“ Die junge Türkin S. sagt das nicht ohne Stolz.

10-Minuten-Arbeiten sind keine Seltenheit. „Wenn eine Arbeit gut ist, kommst du weg, damit jede austauschbar wird. Und alles für 16 Mark 50 die Stunde.“ Mit ihren 21 Jahren hat sie noch keine Probleme, den Akkord zu schaffen. Es bleiben ihr sogar noch vor Schichtende einige Minuten Zeit, sich zu schminken. Wie lange noch? S. berichtet von den weinenden Kolleginnen, von den Zusam-
menbrüchen, die auf der Tagesordnung sind. Die Türkin P. war schon in allen Abteilungen, ihr kann keiner was vormachen. Sie blickt auf acht Jahre Bandarbeit zurück, sie ist froh, nicht mehr Akkord arbeiten zu müssen: „Ich habe unmenschlich gearbeitet.“. Auch wenn nun am Monatsende etliche Mark fehlen, P. wird jetzt weniger angetrieben. Die zierliche Frau beteuert, jetzt nicht mehr so nervös zu sein wie früher. Noch immer macht sie sich Gedanken über ihre Kolleginnen. „Der Akkord muss weg, aber wie?“ Für einen zusätzlichen Hunderter im Monat liefern sich die Akkord-
frauen vollends dem aus, was M. Zerstörung durch Arbeit nennt: „… und die nimmt zu, gerade bei Frauen.“ Immer weniger Arbeiterinnen erreichen noch das normale Rentenalter. Zwischen 1974 und 1984 fiel das Durchschnittsalter des Eintritts in die Erwerbsunfähigkeit bei Frauen von 61 auf 58 Jahre.1

Sind die Frauen schon so kaputt, dass sie dem Raubbau an ihrer Arbeitskraft keinen Widerstand entgegensetzen können? Nein, sie kämpfen, und das heißt viel mehr als sich zu beschweren über dies und das. Diese Arbeiterinnen haben eine gemeinsame Akkordreklamation durchgeboxt. Sie haben nachgewiesen, dass die Stopper Zeiten unter den Tisch fallen lassen. Wetten waren abge-
schlossen worden, keiner um sie herum hatte an einen Erfolg geglaubt, sie haben gewonnen. „Aber du musst jeden Tag von neuem kämpfen“, beginnt M. ein anderes Beispiel.

Wenn die Schreiberin kommt und danach fragt, ob die Frauen eine Viertelstunde früher beginnen wollen, ist einhellige Ablehnung da. „Das wird wieder Ärger geben“ ist der knappe Kommentar der griechischen Arbeiterin neben M. Aber es bleibt dabei.

Die Arbeiterinnen beraten gemeinsam, was bei Problemen im Betrieb zu tun ist. Sie finden es gut, in ihrer Mitte einen Menschen zu haben, der so denkt wie M. Ihre Vorschläge erwiesen sich als nützlich, sie wurden gemeinsam in die Tat umgesetzt, so konnten die Arbeiterinnen der Akkord-
hetze ein Stück abbrechen. Doch die Frauen bleiben mit ihren Gesprächen nicht im Betrieb. Sie wollen der Ausbeuterwirtschaft auf den Grund gehen und Auswege sehen. Die Vorschläge M.s dazu sind wieder einfach und jede Arbeiterin kann sie verstehen: Roboter sollen diese Arbeit machen, also kein Akkord mehr. Sie, die Arbeiterinnen, sollen endlich ihre Fähigkeiten entfalten können. Sie sollen sich mit der Planung der Produktion befassen, mit der Lenkung des Staates. Die Voraus-
setzungen beginnen zu keimen.
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Arbeiterinnen haben ein sehr bewusstes Verhältnis zur Zeit, der kapitalistische Arbeitstag ist ein strenger Lehrmeister. Trotz der kleinen Erfolge ändert sich nichts am Zeitkonflikt. M. beschreibt das so: „Du bist immer am Rechnen, den ganzen Tag am Rechnen. Manchmal schaffen wir es, manchmal nicht.“ – „Immer schnell, immer die Uhr“, so erinnert sich P. Die musste sich immer wieder den Akkord erschwindeln, indem sie in der Brotzeit weiterwerkelte, in einer Hand die Semmel, die andere Hand an der Maschine. So wie F. suchen die Arbeiterinnen zuerst individuelle Lösungen, dem Druck zu entkommen. Sie sind 15 oder 20 Minuten vor Schichtbeginn da, um die Werkzeuge bereitzulegen, die Schrauben mit den Scheiben zu versehen und vorzusortieren, die Lötpumpe zu reinigen.

Ein anderes Beispiel. Die Sorge um die Kinder lässt die Frauen öfter am Tag zur Telefonzelle ha-
sten, um schnell einen Anruf zu machen, ob alles in Ordnung sei. Jede zweite Mutter in der BRD ist erwerbstätig. So ist es normal, dass an der Telefonzelle vor der Kantine eine Schlange steht. Da will immer eine nach vorne, der Akkord droht in den Keller zu fallen, die Hetze entlädt sich in Be-
schimpfungen. Jede Minute ist unwiederbringlich, die Maschinenlaufzeiten betragen manchmal bis zu 87 Prozent der Akkordzeiten! Frauen, die im Zeitlohn sind, die also der Akkord nicht an den Stuhl fesselt, werden „verwarnt“, wenn sie den Arbeitsplatz zweimal für einen Anruf verlassen. So widerfuhr es P., als eines ihrer Kinder krank war. So verlangt es die Bußordnung der modernen Fa-
brikanten. Ebenso modern mutet die Feststellung an: „Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und. Kindern werden umso ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen [werden].“2

Ein Aachener Metallbetrieb hat seinem Unternehmer bezahlte Pausen für Mütter abgerungen, jede Stunde 10 Minuten! Ein Kampf für kollektive Pausen ist doppelt lohnend: er beseitigt die Vereinze-
lung der Frauen, die sich’s irgendwie richten, und weist über die Abteilung hinaus.

Zu erinnern ist da auch an den Lohnrahmentarifvertrag 11 von 1973 in Nordbaden-Nordwürttem-
berg, der mit von den Bosch-Arbeiterinnen erkämpft wurde: Je Stunde 8 Minuten bezahlte Pause für alle Akkordarbeiter!
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Ein Stück mehr Zeit, so erkämpft, könnte den Arbeitermüttern in diesem Betrieb zum Beispiel er-
leichtern, die Kinder am Morgen zum Kindergarten zu bringen. Was mit den Kleinen an diesem Betrieb geschieht, kommt einem Abladen gleich, es passiert ähnlich tausendfach. Die Kinder müs-
sen vor 6 Uhr aus dem Schlaf gerissen werden. Schnell anziehen, das Frühstück entfällt für Mutter und Kind, es bliebe doch im Halse stecken. Dann stolpern die Kinder, die Zukunft der BRD, an der Hand der Mutter zum Betrieb, einen guten Teil des Jahres in Kälte und Dunkelheit. Es ist etwa ½7 Uhr. Nun werden sie am Werkstor abgestellt, denn die Arbeitszeit, wie sollte es anders sein, richtet sich nicht nach dem Kindergarten. Nur drei von vier Kindern finden einen Kindergartenplatz, es ist schon ein großes Glück, gleich bei der Fabrik einen zu bekommen. Jetzt müssen die Kleinen eben warten, bis geöffnet wird und sie rüberlaufen können. Im Winter dürfen sie sich im stickigen Pfört-
nerhaus wärmen – welche Barmherzigkeit im High-Tech-Zeitalter.

Der Gesundheitszustand dieser 3 – 6jährigen „Ganztageskinder“ (so genannt, weil sie den ganzen Tag im Kindergarten sind) ist erschreckend: Ansteckende und epidemische Krankheiten nehmen zu, weil die Kleinen nicht versorgt werden können, ja oft fiebernd abgegeben werden müssen. Chronische Erkrankungen wie Bronchitis sind häufig. In Ländern wie China, Albanien und der Sowjetunion ist es selbstverständlich, daß zum Betriebskindergarten eine Krankenabteilung ge-
hört, wo die Arbeiterinnen auch tagsüber nach ihren Kindern sehen können. Was die Merkfrauen machen, wenn ihre Kinder krank sind? Nun, sie bekommen auch Keuchhusten …

Diese Gesellschaft kümmert sich nicht nur einen Dreck um die Gesundheit der Arbeiterklasse, ge-
nauso verfährt sie mit deren Kindern. Dabei wäre es von ihrem Standpunkt aus billiger, bei jeder Fabrik einen Kindergarten einzurichten, was aber der Krämergeist des einzelnen Kapitalisten nicht zulässt. Und ihr Staat auch nicht. Betriebskindergärten sind im übrigen keine sozialistische Errun-
genschaft, sogar die Knochenbrecherbude Zündapp in München hatte eine solche Einrichtung. Einmal erkämpft, könnten einige der beschriebenen Auswüchse gemildert werden, die erwerbstäti-
gen Frauen würden entlastet. Aber die Kinderaufbewahrung, ist sie auch noch so nahe am Arbeits-
platz, erfolgt nur für das Kapital. Umso besser kann die Frau in den Arbeitsprozess eingesogen werden.

Arbeiterinnen, die ihr Kind unter den beschriebenen Umständen zurücklassen müssen, plagt 8 Stunden am Tag das Gewissen. M. ist froh, dass ihre beiden Kinder schon zur Schule gehen und sich selber versorgen können. Doch sie ist auch bei den Frauen dabei, die schon am Morgen zur Telefonzelle laufen, um den „Weckdienst“ zu machen für die schulpflichtigen Kinder daheim. M. hat recht: „Die Reichen haben ja ihre Kindermädchen“. Für einen Teil der hiesigen Gesellschaft ist die gesellschaftliche Erziehung – unter Fortdauer der Ausbeutung – schon Wirklichkeit. Das Bür-
gertum hat sie in verzerrter Weise eingeführt. Nicht nur, dass Arbeiterinnen als Putzfrauen den Dreck bürgerlich verzogener Rotzlöffel beseitigen müssen. Als Gouvernanten ermöglichen sie den Bourgeoisiefrauen, sich schnell von den lästigen Mutterpflichten zu befreien. Die Reichen haben außerdem Internate, Offiziersschulen und Priesterseminare. Und für die Arbeiter die Kasernen.

Welche Arbeitermutter wird bestreiten, dass Kinder unter ihresgleichen, mit Hilfe ihrer Klasse, besser zu erziehen sind? Ein Erziehungssystem, welches für die Heranwachsenden produktive Arbeit mit Unterricht und Sport verbinden wird, ist für den Betrieb allerdings nicht erreichbar, es bleibt unserer Zukunft vorbehalten.
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Feierabend? Das Kunststück Zeit geht weiter. Wenn M. heimkommt um 16 Uhr, hat sie sich vor-
genommen, die erste halbe Stunde mit den Kindern zu verbringen. Also setzt sie sich erst mal hin und schaut die Hausaufgaben an, bespricht mit ihnen, was los war. „Aber das mache ich immer weniger.“ Meistens, so erzählt sie, räumt sie schnell auf, dann: Einkaufen, Kochen, Wäsche aufhän-
gen. Es beginnt der Teil des Tages, der der Wiedererstellung ihrer Arbeitskraft dienen soll, was ja auch im Sinne des Bosch-Kapitals ist. Weil M. keine Waren produziert, während sie für drei Tage vorkocht, die Hausaufgaben ihres Sohnes kontrolliert, den Rock ihrer Tochter näht, die Waschma-
schine füllt, ist sie unproduktiv im Sinne des Bosch-Kapitals. Nun greift die bürgerliche Gesell-
schaft zum Betrug. M. leistet unbestreitbar einen wichtigen Beitrag zum Fortbestand der Bosch und Krupp. Ihre Fabriken und Kasernen brauchen Nachschub. Daher erklärt das Bürgertum die Tätigkeiten von M. in der Zeit von 17 bis 21 Uhr zur natürlichen Aufgabe der Frau.

Die Produktionsverhältnisse wirken also auch in der Zeit, die statt Freizeit besser ausbeutungsfreie Zeit heißen muss. (Frei ist sie nur, wenn das Kapital nicht über sie verfügt. Das ist aber nicht der Fall!). Sie wirken auf M.s Heim und Herd und zwingen sie, ihr Leben täglich minutiös zu planen: „Du mußt am Abend vorher praktisch den ganzen Tag vorbereiten. Aber es funktioniert einfach nicht immer so, und dann kommt alles durcheinander.“ Gemessen am Stand der Technik ist heute die verfügbare Arbeiterküche so anstrengend, zeitraubend und verschwenderisch, wie weiland die Werkstatt von Meister Eder. Natürlich hat M.s Wohnung Zentralheizung; diese Selbstverständlich-
keit gibt es bei weitem noch nicht in allen Arbeiterwohnungen. Es gibt schon automatische Müllbe-
seitigungsanlagen und Zentralwäschereien, wenn auch nur in den Hotels und Appartmenthäusern der Reichen. Es gibt auch Zentralküchen, wenn auch „Feinkost Käfer“ nur die Villen der Reichen beliefert. Die Beispiele zeigen, was ökonomisch möglich geworden ist für einen Teil der bürgerli-
chen Gesellschaft. Und sie zeigen, dass diese die Keime für die Umgestaltung in sich trägt. Die ge-
sellschaftliche Versorgung von Schülern mit warmem Mittagessen, amtsdeutsch „Schulspeisung“, gibt es in kläglichen Ansätzen, in München an 2 Gymnasien. (Dass die Kids heute lieber zu McDo-
nalds gehen, sagt nicht nur etwas aus über die Qualität kommunaler Essenszubereitung im Kapi-
talismus, es zeigt vor allem, dass ein gesellschaftliches Bedürfnis vorhanden ist.)

Der Bosch-Konzern, nach 1945 von den Alliierten als „kriegswichtiger Betrieb“ eingestuft und be-
schlagnahmt – die Boschzündung befand sich in praktisch allen Fahrzeugen, mit denen die faschi-
stische Wehrmacht andere Völker überrollt hatte – müsste es besser wissen. Der Kapitalismus war, mit einigem Nachdruck der US-Besatzer, gezwungen, die Kinder und Schüler angemessen zu er-
nähren. 1947 wurde in den westlichen Besatzungszonen für 3,5 Millionen Kinder der Mittagstisch bereitgestellt.

Die Arbeiterhaushalte haben heute kaum mehr Reserven. Statt Volksküchen und Zentralwäsche-
reien, diese Errungenschaften der Arbeitersolidarität, ist für sie die Kohlsche Regierungserklärung von 1982 längst Wirklichkeit: „Das politische Strukturprinzip ist die Subsidiarität. Was die jeweils kleinere Gemeinschaft zu leisten vermag, soll ihr die größere nicht abnehmen.“3 Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Die Arbeiter haben also etwas in Anspruch zu nehmen, was das Kapital den Ar-
beitern schon längst zerschlagen hat: die Familie. Sie existiert entwickelt nur fürs Bürgertum, mag sie nun Siemens oder Guldenburg heißen. Die „erzwungene Familienlosigkeit der Proletarier“4 ist die Kehrseite, die Geburtenziffern sprechen dafür: 1966 waren es noch ca. 1 Million, 1985 nur mehr 588.570 Geburten in der BRD. M. gehört wie 12 Prozent aller Arbeiterinnen in der BRD zu den Al-
leinerziehenden.5 Die Familie gibt es für sie nur mehr in Form der ambulanten Großmutter, die die Arbeiterin entlasten muss. Ihre Mutter kommt, um mal die Kinder zu betreuen, und einmal in der Woche zum Bügeln.
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Wie kann die Arbeiterin der Doppelbelastung entkommen? Etwa durch scharfes Nachdenken der Männer darüber, wie sie sich zu ändern haben, wie es die neue Innerlichkeit fordert? Eine Bewe-
gung von Frauenfunktionären geistert durch DGB und SPD, sie verlangt: „Her mit unserer Hälfte!“ Ist das die Lösung? Bestimmt nicht, wenn wir uns ihren Niederschlag in den „Frauenförderplänen“ des IG-Metall-Vorstandes ansehen: Quoten für Frauen in allen Funktionärsebenen, in allen be-
trieblichen (!) Hierarchien. Vorstandssessel und Antreiberposten, das ist nicht die „positive Diskri-
minierung“ der Frau, von der Clara Zetkin einmal sprach, wohl aber besondere Schutzrechte für die Arbeiterin in der Abwehr verschärfter Ausbeutung. (In den Plänen des IG-Metall-Vorstandes ist nicht der Rausschmiss des IG-Metall-Mitgliedes Blüm vorgesehen, der soeben das Nachtar-
beitsverbot für Frauen abschafft!)

Quotenregelungen seien der bürgerlichen Frauenbewegung überlassen. Die Frage heißt nicht Mann oder Frau, sondern: Auf welcher Seite stehst du! Die meisten Frauen aus M.s Betrieb kom-
men nicht zu den Gewerkschaftsversammlungen. Für sie selbst ist ein Tag, an dem eine Versamm-
lung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute angesetzt ist, „einfach furchtbar“. „Das ist so ein Zeit-
verlust, wenn das bis 19 Uhr dauert. An so einem Tag seh’ ich die Kinder fast nimmer, da muss noch schnell der ganze Haushalt laufen.“ Die Arbeiterbewegung hat die verdammte Pflicht, alles zu tun, dass die Arbeiterfrau mehr als bisher am Klassenkampf teilnehmen kann. Also heißt es wie-
der: Weg mit dem Akkord! Wenn damit Dampf gemacht wird, dann fällt es umso leichter, Gewerk-
schaftsversammlungen während des Arbeitstages durchzusetzen. Und die Frauen werden da sein.

Die Doppelbelastung macht den Kampf um die Verkürzung der ausbeutungsfreien Zeit für die Ar-
beiterin so wichtig. Und es liegt auf der Hand, daß das Ziel nicht die Anhäufung von freien Tagen („Verfügungstagen“) sein kann, sondern die Verkürzung des Arbeitstages: „Jede halbe Stunde mehr geht dir auf die Knochen.“ Das bekam M. zu spüren, als die Bosch-Kapitalisten zum Jahres-
ende 87 die Bilanz polieren ließen, indem sie einfach die Arbeitszeit verlängerten. Nur in der Er-
werbsarbeit kann die Arbeiterin dem Kapital den Teil an Zeit und Kraft abtrotzen, den sie für ihren Kampf und für ihre Persönlichkeitsentwicklung braucht. F. würde gerne wissenschaftliche Bücher lesen, S. würde gerne Politik studieren, sie meint, dann „besser eingreifen“ zu können. Wie diese beiden denken alle Arbeiterinnen über die Welt, über die Zukunft nach. Aber nach der Hausarbeit, nach dem Pauken mit ihrer Tochter, die in die Realschule geht, wollen F. die Augen zufallen, wenn sie nach einem Buch greift.

Meistens verliert sie diesen Kampf. Für viele andere bleibt nur der Fernsehapparat, der dauernd läuft, wie A. aus Gesprächen in ihrer Abteilung weiß. „Die meisten gehen so um 22 Uhr ins Bett, wenn nicht gerade Dallas kommt.“ Zeit für sich können Frauen nur auf Kosten ihres Schlafes ge-
winnen, wie es scheint. Muße ist etwas Besonderes, der gesunde 8-Stunden-Schlaf ist nach einer Untersuchung des DGB eine wirklichkeitsferne Vorstellung.6

Auch M. muss um die wirklich freie Zeit für sich kämpfen. „Wenn man auf eine Veranstaltung gehen will, zum Beispiel über den Befreiungskampf der Polisario, dann musst du dir praktisch jede Minute vorher überlegen, du musst es dir irgendwo rausschneiden. Am gesellschaftlichen Leben kannst du nur teilnehmen nach deinen neun Stunden Arbeit, nach vier, fünf Stunden Hausarbeit. Dann kannst du sonst irgendwo mitmachen oder auch nicht …“

Weil sie einen Vortrag über die Geschichte der Arbeiterbewegung vorbereiten wollte, hat sie einen Nachmittag freigenommen. Sie will aus den Erfahrungen der Arbeiterbewegung lernen, obwohl sie weiß, dass dann im Haushalt viel liegen bleibt. Dann beginnt wieder ein Teufelskreis für M., denn „ohne eine bestimmte Ordnung, die ich unbedingt haben will, kann ich nichts anderes machen“. Doch sie kann es nicht lassen daran zu arbeiten, daß ihre Klasse wieder eine Partei hat. Nur diese Zeit, die sie gegen das Kapital arbeitet, ist ihre Lebenszeit. Doch sie merkt, wie ihr die Zeit entglei-
tet: „Je länger man in dieser Mühle ist, umso weniger Zeit bleibt mir für politische Arbeit. Viel-
leicht merkt man das erst über Jahre, am Anfang ist mir das nicht so gegangen wie jetzt … das hat mir nichts ausgemacht, wenn ich mich vielleicht zweimal in der Woche mit gleichgesinnten Arbei-
tern getroffen habe. Aber jetzt ist es für mich eine große Überwindung. Aber es muss sein, sonst kommen wir aus dem Elend nicht ’raus …“

Die beschriebenen Probleme sind das Los von 8,2 Millionen Arbeiterfrauen, fast 40 Prozent der Klasse.7 Sie sind, wie wir gesehen haben, nicht lösbar, wenn sich jede Frau ihren eigenen Ausweg sucht. Mögen die Bürger die Frau noch so gerne an Heim und Herd gebunden sehen, die kapitali-
stische Wirklichkeit schreibt klare Zahlen: Heute sind zwei von drei Frauen zwischen 25 und 45 Jahren erwerbstätig, 1970 war es erst jede zweite Frau.8 Die Erwerbsarbeit stellt die Frau den männlichen Klassengenossen gleich, sie ist Voraussetzung ihrer Befreiung und damit zugleich der ganzen Klasse!

Das hat auch die türkische Arbeiterin P. erkannt, die aus einem Land kommt, wo der Feudalismus noch mit dem Kapitalismus ringt, wo auf dem Dorf noch der Aga herrscht und nicht Daimler Benz, Siemens und Bosch. Sie drückt das so aus: „Deutschen Frauen geht es besser als unseren Frauen, oder? Die haben mehr Rechte.“ P. hat auch eine klare Vorstellung von der Zukunft dieses Landes, das so anders ist als ihre türkische Heimat: „Das ist ein schönes Land, ein Arbeiterland. Sozialis-
mus in Deutschland ist ganz leicht.“
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Jeder Streik trägt dazu bei, den Unterschied aufzuheben, den die da oben machen zwischen Mann und Frau. So war es auch bei Merk. „Die Bestückungsautomaten sind gestanden und die Prüfauto-
maten – überall war Ruhe. Weil nämlich der Arbeiter, der sonst der letzte Dreck ist, weil der mal bestimmt hat: So, und für eine halbe Stunde passiert jetzt gar nichts.“ So erinnern sich M. und A. an den Streik für die 35-Stundenwoche. Es wundert uns nicht nach all dem Gesagten, dass die Ar-
beiterinnen des Werks die Ersten und Entschiedensten waren im Kampf. Wie konnten sie auch sitzen bleiben, wenn was geschehen soll gegen die Hetze im Betrieb, gegen den Zeitdruck nachher daheim. „Die Freude spürt man, das ist es, was uns dann auch nachher miteinander verbindet. Dass wir mal bewiesen haben, jedem Meister, dass sie nicht die Macht haben, mit uns alles machen zu können!“

Das ist der eigentliche Erfolg aller Kämpfe, diese „immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“.9 Sie waren für ein halbe Stunde Herren ihrer Zeit, weil sie Herren über die Maschinen waren. Dass dieser Zustand nicht nur eine halbe Stunde dauern könnte, sondern etwas ganz Nor-
males sein könnte, davon ist M. überzeugt: „Wir könnten anders produzieren, anders für uns arbei-
ten, wir bräuchten keine Antreibersysteme und schon gar keine Ausbeuter. Dann wird er nicht mehr gedruckt, dann wird der Arbeiter Herr seiner selbst und kann zeigen, was er wirklich kann!“ Diese Überzeugung macht ihr Mut, sagt sie. „Also, wenn ich mir vorstelle, ich könnte nicht begrei-
fen, warum das so ist, und ich müsste jeden Tag Akkord arbeiten …“
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Wir haben M. kennen gelernt als Arbeiterin, die den Zeitkonflikt wie Millionen ihresgleichen durchzustehen hat. Dass sie diesen immer wieder im Sinne ihrer Klasse lösen kann, dazu bedarf es des vielfältigen Wissens ihrer Organisation, des Arbeiterbunds für den Wiederaufbau der KPD. „Weil du als Einzelner, das ist zu wenig, wenn du was erkannt hast, begriffen hast, und du hast keine Organisation, die die Möglichkeit einer Zeitung, einer Presse hat …“ So kann sie ihren Kol-
leginnen von immer neuen Erfahrungen berichten aus den zahlreichen Betrieben in der BRD, in denen ihre Organisation vertreten ist. Und sie eignet sich in zähem Ringen, wie wir sahen, die Wissenschaft ihrer Klasse an, den Kommunismus. Der aus den Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung schöpft. „Aber das Wichtigste ist, dass ich überzeugt bin, dass der Arbeiter irgendwann der Herr sein wird, in der Türkei ebenso wie hier. Weil ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ewig so weiterleben können.“ Die Zeit drängt, es geht um M.s Perspektive, endlich Herr zu sein über die Produktion. Für die drei Frauen dreht sich alles um die Zeit – auch um die Zeit bis zur Revolution.

KAZ-Arbeitskreis München
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Daten zu Merk und Bosch
◊ Merk-Belegschaft gesamt: 1.250; aufgeteilt in drei Betriebe; ein gemeinsamer Betriebsrat.
◊ Insgesamt 546 Frauen (Arbeiter/Angestellte).
◊ Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad beträgt bei den Arbeitern 30 Prozent. Im Stammwerk Giesing sind 200 ausländische Arbeiter (m/w),   die Herkunftsländer sind nach der Größe der Gruppen: Jugoslawien, Türkei, Griechenland.
◊ Produziert werden: Gefahrenmelder, Alarmanlagen, Schautafeln für Sport und Busse, Telefone, Zentralen für Bundespost.
◊ Merk gehört zur Telenorma Beteiligungsgesellschaft mbH.
◊ 1986 kaufte Bosch einen Großteil der AEG-Anteile an der Telenorma. Anfang 1988 kaufte Bosch die restlichen 10-Prozent-Anteile und die Anteile eines „Altgesellschafters“. Somit gehört die Tele-
norma und damit Merk 100prozentig zum Bosch-Konzern. (Aus „der elektroniker“ 3/88)
◊ Mit einem Umsatz von 30,6 Mrd. (1989) lag Bosch an 2. Stelle hinter Siemens mit 61,1 Mrd. Bosch hat 5,2 Mrd. liquide Mittel.

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1 Fakten zur sozialen Demontage, Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, November l987.

2 Manifest der Kommunistischen Partei, K. Marx, F. Engels, 1848.

3 „Für eine Politik der Erneuerung“, Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982.

4 Manifest der Kommunistischen Partei, K. Marx, F. Engels, 1848.

5 Mitteilungen für Frauen, IG Metall, 4/1987.

6 Der Gewerkschafter, Funktionärszeitschrift der IG Metall, 7/1987.

7 Daten für Metaller, Hrsg. Vorstand der IG Metall, Stand 1986.

8 Mitteilungen für Frauen, IG Metall, 4/1987.

9 Manifest der Kommunistischen Partei, K. Marx, F. Engels, 1848.


KAZ Kommunistische Arbeiterzeitung 213 vom 10. Dezember 1990, 10 ff.
(Diese Reportage entstand vor drei Jahren.)

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Frauen

Referenzen