Materialien 1988

Der Revolver

„Findst ned a, dass hier irgendwie a g’spannte Situation herrscht?“
Erinnerungen an eine Demo

Schneidende Kälte frisst sich in die Glieder. Über der Münchner Theresienwiese ruht der blassrote Schein der hinter dem Westend versinkenden Sonne. Es ist etwa 17 Uhr und der 7. November 1988. Einige Lastwagen stehen im vereisenden Morast, Menschen treten von einem Bein aufs andere, Transparente werden entfaltet. Links und rechts an der Seite unseres Pritschenwagens kann man „Jai Lybel + Die Interpreten: Für Revolution ist gesorgt“ entziffern.

Nach längerem Suchen fand sich im Speicher zu Hause doch noch der korrodierte Schreckschuss-
revolver. Wir brauchen ihn für die Aufführung, die während der Demonstration anlässlich des 70. Jahrestages der Revolution in Bai(!)ern auf der Ladefläche unseres Autos abgehen wird. Patronen gab es in einem Waffengeschäft.

Jetzt lädst du das Ding, hebst es hoch in den graurose-verhangenen Himmel und drückst ab. Es funktioniert. Die geprellte Hand schmerzt, deine Ohren sind taub und du siehst, wie sich etwa zwanzig Meter vor dir zwei Polizisten in den Matsch werfen. Sofort steckst du das donnernde Re-
quisit ein. Erwin meint: „Des können S’ wirklich.“ Andi fragt: „Findst ned a, dass hier irgendwie a g’spannte Situation herrscht?“ Du verstehst beide, weil du auf ihre Lippen schaust.

Die Demonstrationsroute führt mehr als drei Stunden lang von der Wiesn über den Marienplatz, Odeonsplatz, Promenadeplatz zum Mathäserbräu, wo Amery, Lattmann, Hitzer und Hildebrandt sprechen und Söllner und die Wellküren auftreten werden.

Bald marschieren zwischen mehreren Autos, auf denen Spruchbänder und Plakattafeln zu sehen sind, über 1.000 Menschen. Ganz vorne das Transparent mit dem Landauer-Zitat „Der Staat ist immer organisierter Übergriff’. Dann kommt die Samba-Gruppe hinter der Losung „Die Revolu-
tion ist großartig – alles andere ist Quark“. Direkt vor unserem Auto marschiert ein Demonstrant in Hemd, Spenzer, „Gehsthintere“, wie der Gehrock gemeinhin heißt, weiter Hose und Gamaschen mit Bart, Kneifer und Hut. Er trägt eine Tafel mit der Aufschrift „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!“. Auf Kreuzungen beobachten wir, wie uns in den Nebenstraßen diverse Polizei- und Krankenwägen begleiten.

Auf unserem Laster dröhnt die Crew, von dramaturgisch gesetzten Schüssen geschickt strukturiert. Zwischen den Häusern hallt Jais gellender Ruf „Revolution!“. Am Marienplatz trifft die Demo auf eine andere. Kardinal Friedrich Wetter will, wenn wir den Platz wieder verlassen haben, eine Mes-
se zum 350. „Geburtstag“ der Mariensäule zelebrieren. Die Polizei versucht, die Gläubigen und uns auseinander zu halten. Fromme Wünsche sind zu hören: „Scheißkommunisten, geht doch rüber! Euch haben sie vergessen zu vergasen!“

Auf dem Odeonsplatz parken wir den Laster vor dem Cafe Annast. Der Schreckschussrevolver liegt auf der Seitenbank unter einer Plane versteckt. Wir hören die Rede von Sigi Benker. Er spricht über Widerstand und die Inszenierung desselbigen.

Wie aus dem Nichts gewachsen sind plötzlich drei Zivilisten da, einer greift blitzschnell über die Brüstung des Autos, fasst den Revolver, hebt ihn hoch und schreit „Eine Waffe! Eine Waffe!“ Wir alle sind wie erstarrt, aber Jai brüllt aus Leibeskräften los: „Polizei! Polizei!“ Sofort haben unifor-
mierte Polizisten unseren Laster umstellt, und du rufst, ohne noch irgendwie nachzudenken: „Mit dem Ding können S’ ned amal a Maus erschießen!“ Kurzes Gespräch zwischen Polizisten und einem Polizeioffizier, dann: „Wer ist der Besitzer?“ Zur Personalienfeststellung wirst du zum Wa-
gen des Einsatzleiters geführt, die Taschenkanone bleibt beschlagnahmt, Erwin, der unbesonnene Schütze, wird angezeigt. Ich auch.

Weiter geht der Zug. Am Promenadeplatz wird der Ermordung Eisners gedacht. Punks skandieren vor dem Hotel Bayerischer Hof „München – Bonzenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt!“ Der Zug zieht weiter, lärmend, trommelnd. Der Mathäserbräu, die Endstation, ist hoffnungslos über-
füllt …

21. Februar 1989 abends. Ein Polizist diktiert sorgsam in sein Sprechfunkgerät: „Ich lese ‚Alle Macht den Räten’, dann ‚ Die Freiheit erhebt ihr Haupt, folgt ihrem Rufe’ – ja: ‚Rufe’, dann ‚Gott ist tot’, dann ‚Alles unter Kontrolle’ Fragezeichen …“

Das Häufchen Demonstranten drängt sich frierend zusammen. Ein ebenfalls fröstelnder Ord-
nungshüter meint leutselig: „Hätt’n s’n halt im Juli daschoss’n, dann wär’ uns jetzt wärmer!“ Aus einem Gebäude tritt ein edel gewandeter Banker, der zunächst das quergestellte Polizeifahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht sieht. Ein kurzer Blick auf die Kundgebung, dann die barsche Frage an einen Polizeioffizier: „Ja, was is’ denn des?!“ Der, ärgerlich: „Es handelt sich hier um eine Kundgebung für Kurt Eisner, der hier vor siebzig Jahren von einem Reaktionär (!) erschossen wurde.“ Der Banker reißt die Augen weit auf – und eilt mit großen Schritten zu seinem BMW.

Ein anderer unscheinbarer Mann in Zivil spricht in seinen am Kragen leicht geöffneten Mantel: „Rede beendet, etwa hundertfünfzig Leute, viele tragen Fackeln.“ „Pfpfff. Wo stehen Sie, Wachtel II? Brrtssss.“ „Eingang Bank Ecke Promenadeplatz.“ „Pfrrthh, kncks, krschschsch.“ ,Jetzt singen’s die Internationale.“ „Prrchszzz. Wer? Tock.“ „Es ist der Gewerkschaftschor.“ „Tock. Krzzz. Tsch. Ist in Ordnung, Wachtel II. Krrrsssch.“

Wochen später bin ich ins Polizeipräsidium einbestellt. So recht hatte ich dort noch nie angenehme Erlebnisse. Und es riecht hier immer gleich. Im Fahrstuhl stehen neben mir zwei Männer, schwar-
zes Hemd, helle Krawatte, feines Tuch, zweifarbige Schuhe, mehrere Ringe mit fetten Klunkern an den Wurstfingern. Einer klopft mir auf die Schulter und meint heiser: „Werd scho’ ned so schlimm werd’n!“

Das Zimmer des vernehmenden Kommissars ist winzig. Auf dem Tisch in der Ecke ragt eine klobi-
ge schwarze Schreibmaschine und hinter ihr sitzt ein unscheinbares Fräulein. Hier in diesem ziga-
rettenverqualmten Kabuff brennt auch tagsüber das Elektrische. Im Halbdämmer sind an den Wänden gerahmte Sportdiplome und ein Porträt Ludwig II. zu sehen.

Wer durch die Wüste zieht, sollte zu Vernehmungen nicht gehen, denke ich, aber ich bin auch neu-
gierig. „Das Protokoll geht zum Staatsanwalt“, meint der Kommissar. Das Fräulein spannt drei aufeinander gelegte Blätter nebst dazwischen geschobenem Durchschlagpapier ein. Ich erkläre tapfer, dass das Schreckschiesseisen meins sei, die Schreibmaschine klappert, und dann fragt er mich, was ich denn davon halte, wenn auf den mitgeführten Transparenten steht „Gesetze sind in Worte gepresster Terror. Nieder mit Kapital und Klerus! Wer vom Staat isst, kommt an ihm um. Reißt die Gefängnisse nieder, u.s.w.“. Ob ich das denn gut fände? Seine Stimme klingt schneidend.

Die Schreibmaschine klappert. Ich antworte: „Mei. Bei uns gibt es niemanden, der einem anderen vorschreibt, was er sagen oder machen soll.“ Der Kommissar sieht mich nachdenklich an. Ich er-
gänze: „Bei uns kann jeder machen, was er will.“ Das blasse Fräulein hört mit dem Tippen auf und hebt den Kopf.

Wochen später soll ich das corpus delicti abholen. Auch die Anzeige gegen Erwin wird fallengelas-
sen. Der Staatsanwalt hat Besseres zu tun.

Günther Gerstenberg


Geschichte quer. Zeitschrift der bayerischen Geschichtswerkstätten 10/2002, Aschaffenburg, 59 f.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Gedenken

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