Materialien 1988

Wände sprechen Bände

Zwei dunkle Schemen wirft das flackernde Licht an die gebogene Wand der Unterführung. Mein regelmäßiger Spaziergang nach Mitternacht bietet wirklich abwechslungsreiche Begegnungen. Flüstern, leises Zischen – ich biege um die Ecke und kann zwei fixe Turnschuhträger gerade noch am Ende des Tunnels über die Treppe verschwinden sehen.

Die Farbe an der Wand ist noch nicht trocken. Expressiv hingeworfene, überdimensionierte Zei-
chen lassen Schrift erkennbar werden, deren Entzifferung nicht leicht fällt. In fünf, sechs Stunden wird sich dieser Gang füllen.

Hastig eilen dann graue Gestalten wie jeden blassen Morgen im Münchner Untergrund durch fahle Gänge, schweben auf Rolltreppen kahle Schächte hinauf und hinunter, warten auf vielgliedrige Zü-
ge in U- und S-Bahnhöfen, in denen eine ästhetische Tristesse herrscht, die nur noch grell schrei-
ende Reklamen unterbrechen.

Was denken die sich, die hier warten? Der Mann da drüben: „Tipp-Ex, Tipp-Ex, Tipp-Ex, Tipp-Ex …“ Die Frau da vorne: „Osram, Osram, hell wie der lichte Tag, hell wie der lichte …“ Hier der Mann: „Sie betrügt mich, sie betrügt mich …“ Halt, den meine ich nicht, aber dort: „BMW, BMW, BMW …“ Dem Terror dieser städtisch sanktionierten Propaganda, die jeglichen Sinnes entbehrt außer dem, die Leute zum KAUFEN zu motivieren, kann sich nur der Kurzsichtige oder endgültig Abgestumpfte entziehen.

Heinrich „Milliöh“ Zille hat einmal – es ist lange her – gesagt, dass man mit Wohnungen Men-
schen erschlagen kann. Nun, mich drängt es, diese Mischung aus fader Ungestalt eingesprengselt mit krasser Reklame als aggressiv zu bezeichnen, die im öffentlichen Raum Bewusstsein und Füh-
len empfindlich verletzt.

Körperverletzung wird sichtbar, Verletzung von Geist und Seele kann dagegen nur schwer festge-
stellt werden. Körperverletzung wird geahndet, geistigseelische Verletzung nicht. Liegt es daran, dass sich alle schon zu lange gewöhnt haben an eine scheinbar nicht mehr abzuwendende Propa-
gandaindustrie des Kaufrausches, die alle anderen Pflänzchen kritischen Denkens, unangepassten Verhaltens, alternativen Lebens zu ersticken droht?

Und findet sich tatsächlich irgendwo Kunst, bleibt sie meist auf dem Niveau einer herzig-biederen Genrebildnerei wie im „lustig“-dekorierten Bahnhof „Theresien-Wiese“.

Kunst im öffentlichen Raum – hier kann München im Vergleich zu anderen Städten nur als blasse Provinz bezeichnet werden. Was sich da bei uns findet, ist in der Regel pflegeleicht, unauffällig, brav. Alles steht fest – von vorne bis hinten; nichts wirft Fragen auf, Rätsel oder formuliert auch nur einen Gedanken. Wie langweilig!

Wie mitreißend, irisierend dagegen leuchten die Figuren eines Roger Somville in der U-Bahnstati-
on Hankar in Brüssel. Wie aufregend bleibt noch in der Erinnerung der Gang durch den „öffent-
lichen Kunstraum“ Bremen. Hier hat ein mutiger Kultursenator endlich einmal etwas gewagt – und gewonnen!

Aber auch in München zeigt sich eine Gegenbewegung. Da versuchen kids, ins graue und kaufideo-
logische Einerlei Farbe zu bringen. Flink setzen sie ihre eigene Handschrift auf die althergebrachte Selbstherrlichkeit, wie sie manche besorgte alte Männer mit drohend wackelndem Zeigefinger lie-
ben. Und jedes Mal, wenn mir ein neues graffito vor Augen kommt, atme ich auf, warm wird es mir ums Herz und dankbar denke ich daran, daß seit geraumer Zeit alle Mittel nichts nützen, diesem Unfug ein Ende zu bereiten.

Kürzlich fing die hochwohllöbliche Obrigkeit mehrere junge Farbterroristen, sog. graffiti-Sprayer ein: 150.000 Mark Sachschaden, den nun die Eltern löhnen sollen. Und alle Münchner Gazetten plapperten dies nach, als ob hier alle derselben Ansicht wären. Handelt es sich wirklich um Sach-
beschädigung? Handelt es sich nicht vielmehr darum, dass sich diejenigen, die noch etwas spüren, mit den ihnen eigenen Mitteln wehren, mit KUNST?

Wie ein Wind, der nächtens über die Stadt kommt und überall Blätter, Äste, Spuren hinterlässt, so kommen sie, zu zweit, zu dritt, und der Morgen beleuchtet ihre Spuren an den Betonwänden. Graf-
fiti, diese KUNST verschwindet nicht hinter abweisend hohen Mauern der Kunsttempel, versteckt sich nicht hinter hehren Ansprüchen, die das Bildungsbürgertum goutiert, und wirkt auch nicht im Sinne einer den Alltag transzendierenden Handlung, nein, graffiti stellen sich dort, wo alle sind, und sie verkaufen sich nicht als Kunst und fordern nicht deren Schutz- und Anerkennungsgaran-
tien.

Da vorne, hinter der Biegung, höre ich vertraute Geräusche: Murmeln, Rascheln, Pffth! Die kids sind am Werk. Ich beschleunige meine Schritte.

Wenn ihre Sprays mit umweltfeindlichem Treibgas geladen sind, dann können sie aber was erle-
ben!

Gerstenberg


Wir. DGB Kreis München 1 vom März-April-Mai 1988, 13.

Überraschung

Jahr: 1988
Bereich: Graffiti

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