Flusslandschaft 1988

Graffiti

Ein Artikel in der Münchner Gewerkschaftszeitung wir hat ein Nachspiel. Die Leitung der Münch-
ner Verkehrsbetriebe
beschwert sich beim Münchner DGB-Kreisvorsitzenden, dass der Autor Ver-
ständnis für Graffitis geäußert habe. Sogar eine Versammlung der Mitarbeiter des MVV habe gegen den Schmierfinken protestiert. Der MVV-Chef sagt dies dem Schriftleiter des Blattes, der den Autor bittet, doch zu einem klärenden Gespräch in die Zentrale des MVV zu fahren und dem dort Verant-
wortlichen Rede und Antwort zu stehen. Der Verfasser des inkriminierten Artikels dackelt also, was er auch gerne tut, zu einem vereinbarten Termin und sieht erstaunt, wie auf der polierten Plat-
te des riesigen Schreibtisches im Zimmer des MVV-Chefs sich mehrere umfangreiche Gesteins-
brocken türmen, deren glatte Vorderseite Graffiti aufweisen. Der Chef ist äußerst ungnädig und verwahrt sich gegen den Artikel, der die „horrenden finanziellen Ausgaben für die Beseitigung des Vandalismus“ konterkariere. Er erwartet vermutlich ein reumütiges Eingeständnis eigenen Fehl-
verhaltens. Der Autor meint, Graffiti erklärten sich dadurch, dass diese Stadt äußerst hässlich sei, dass für Jugendliche kaum freie Räume in der Öffentlichkeit zur Verfügung ständen, dass der öf-
fentliche Raum in erster Linie kommerziellen Interessen offen stehe und dass Jugendliche nur höchst dürftige Perspektiven für ihre Zukunft besäßen. Irgendwie wollen sie sich doch auch ver-
wirklichen. Andere verwirklichen sich mit Protzkarren oder anderem Gedöns. Die Schläfenadern des Chefs schwellen an. Der Autor meint, dass die Fahrpreise ja ganz schön hoch seien und dass man ja die Bahnhöfe, wenn das Fahren schon so teuer ist, auch etwas ansprechender gestalten könne, damit sich die Wartenden dort wohl fühlen. Dann gebe es vermutlich weniger Graffiti. Der Kopf des Chefs färbt sich dunkelrot. Der Autor meint, im übrigen gefallen ihm die Graffiti. Und über Ästhetik könne man nicht streiten. Wie er wieder nach Hause trottet, denkt er, selten sei ein Besuch für beide Seiten so unbefriedigend gewesen und er so überzeugend hinaus geschmissen worden. Und er bedauert, dass er erst jetzt auf die Idee kommt, dass er hätte fragen können, ob er die besprayten Gesteinsbrocken nicht mitnehmen könne. Diese würden sich hervorragend als de-
korative Briefbeschwerer eignen. Wie immer zu spät!1

Im Oktober organisiert die Euro-Graffiti-Union zusammen mit dem Kulturreferat eine „Bauzaun-Aktion“.


1 Siehe Gerstenbergs „Wände sprechen Bände“.