Materialien 1989

München: Nur glänzende Fassade?

DGB München: Fünfjahresbilanz mit gemischten Gefühlen

Der Deutsche Gewerkschaftsbund Kreis München nannte auf seiner jüngsten Delegiertenversammlung einander zuwiderlaufende Entwicklungen und Tendenzen in der Landeshauptstadt, die nachdenklich stimmen und sozialen Brennstoff bieten:

München ist heute das größte Industriezentrum unter den vergleichbaren Ballungsräumen der Bundesrepublik, der Versicherungsplatz Nummer 1, der Bankenplatz Nummer 2 und darüber hinaus ein bedeutendes Handels-, Verwaltungs-, Messe-, Medien-, Bildungs- und Forschungszentrum, ergänzt durch zahlreiche Handwerksbetriebe und mittlere Unternehmen. Rund 30 Prozent aller einkommenssteuerpflichtigen Münchnerinnen verfügen über ein Jahreseinkommen von mehr als 80.000 Mark.

Diese glänzende Fassade verstellt jedoch vielfach den Blick auf krasse soziale Unterschiede in unserer Stadt. 90.000 bis 140.000 Münchnerinnen und Münchner leben nach offiziellen Schätzungen am Rande der Armut. 55.000 Arbeitslose waren im Jahresdurchschnitt 1988 im Arbeitsamtsbezirk München registriert, darunter immer mehr ältere, gering qualifizierte, gesundheitlich eingeschränkte, ausländische oder schwerbehinderte ArbeitnehmerInnen. Mindestens 50.000 meist weiblich beschäftigte sind in ungeschützten Arbeitsverhältnissen tätig.

Die Hälfte aller Haushalte in München muss mit 2.000 Mark im Monat ihren Lebensunterhalt bestreiten. Ein immer größerer Teil davon (nicht selten 30 bis 50 Prozent) ist zur Abdeckung der Wohnungsmiete erforderlich. Denn das Mietniveau in München liegt mittlerweile 53 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Schon heute liegen dem Wohnungsamt 18.000 Vormerkungen auf eine Sozialwohnung vor, doch der Bestand an bezahlbaren Wohnungen wird – falls nichts dagegen geschieht – von derzeit 120.000 auf 40.000 im Jahr 2000 weiter abnehmen.

Diese Daten und Fakten weisen darauf hin: Die Polarisierung sozialer Verhältnisse in München nimmt laufend zu. Auf der einen Seite stehen diejenigen mit Spitzenqualifikationen und guten Gehältern, auf der anderen Seite die an den Rand Gedrängten und Ausgegrenzten. Dazwischen liegt der Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zunehmend Probleme bekommen mit der Qualifikationsentwicklung Schritt zu halten oder die horrenden Lebenshaltungskosten (vor allem Mieten) zu finanzieren.

Eine Ursache dafür ist der Strukturwandel in der Münchner Wirtschaft. Seit 1980 gingen im verarbeitenden Gewerbe 26.000 Arbeitsplätze verloren, bis Mitte der 90er Jahre wird in diesem Sektor ein weiterer Verlust von 20.000 bis 30.000 Arbeitsplätzen vorhergesagt. Die Schwerpunkte des verarbeitenden Gewerbes liegen in der Elektrotechnik, dem Fahrzeugbau, der Luft- und Raumfahrt sowie dem Maschinenbau. Diese hochproduktiven, modernen Industriezweige erfordern einen hohen Aufwand für Forschung und Entwicklung – nach München fließen dreimal so viel Subventionen wie in andere Regionen. Sie stellen aber auch immer höhere Ansprüche an die Qualifikation der ArbeitnehmerInnen, die auf dem Münchner Arbeitsmarkt nicht ausreichend zur Verfügung stehen und deshalb aus dem gesamten Bundesgebiet angezogen werden.

Parallel dazu hat sich der Dienstleistungssektor erheblich ausgeweitet. Mittlerweile sind 63 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in München Angestellte, von denen der Großteil im Bereich der privaten oder öffentlichen Dienstleistungen arbeitet.

Der zweite und entscheidende Grund für die zunehmende Polarisierung ist die konservativ-wirtschaftsliberale Politik der Bundestagsmehrheit. Dazu nur einige Beispiele: Allein die Steuerreform führt bei der Landeshauptstadt München ab 1990 zu Einnahmeverlusten von jährlich mindestens 100 Millionen Mark, die dringend für soziale Ausgaben (Wohnungen, Kindergärten, Beschäftigungsprogramme) und den Umweltschutz benötigt würden. Diese „Reform“ begünstigt die Besserverdienenden, während die geringe Steuerersparnis für Durchschnittsverdiener durch Verbrauchssteuererhöhungen und die Gesundheitsreform mehr als aufgezehrt werden.

Die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz führte dazu, dass die Mittel des Münchner Arbeitsamtes für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) um 16 Millionen und für berufliche Fortbildung um sechs Millionen Mark gekürzt wurden. Die Einstellung der Förderung des sozialen Mietwohnungsbaues und eine mieterfeindliche Politik haben zu einer dramatischen Verschlechterung auf dem Münchner Wohnungsmarkt geführt.


Münchner Stadtanzeiger 41 vom 12. Oktober 1989, 1.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Armut

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