Materialien 1989
Immer mehr Obdachlose
Armut
Münchens Notprogramme scheitern an der braunen Volksseele.
Eine Box aus Sperrholz, ungefähr zwei Meter lang, jeweils einen Meter hoch und breit, mit einer Tür und einem kleinen Fenster. Der Unternehmer Ed Guion glaubt mit seiner neuesten Erfindung eine Marktlücke entdeckt zu haben: Ein ‚Ein-Raum-Studio’ zur Unterbringung von Obdachlosen. So unerhört der Vorschlag klingt, das Problem hat Guion richtig erkannt: Denn den Kommunen wächst die Zahl der Obdachlosen buchstäblich über den Kopf.
München ist besonders betroffen. Es führt die Obdachlosenstatistik unangefochten an. Mehr als 8.300 Bürger verfügen hier über keine eigene Wohnung, vor zwei Jahren waren es ‚nur’ 7.166. Die städtischen Not- und Sammelunterkünfte reichen schon lange nicht mehr aus. Das Amt für Wohnungswesen muss fast die Hälfte aller Obdachlosen in Pensionen unterbringen, oft heruntergekommene Häuser mit einem Minimum an sanitären Einrichtungen.
Sabine Csampai, Verwaltungsbeirätin des verantwortlichen Amtes und GRÜNEN-Stadträtin, macht sich da keine Illusionen: „Die Menschen vegetieren dort auf engstem Raum, der Willkür der Besitzer ausgeliefert. Es ist keine Seltenheit, dass Frauen sich vergewaltigen lassen müssen, um bleiben zu dürfen.“
Rund 130 Pensionen verdienen sich derzeit in München mit der Unterbringung eine goldene Nase. Quadratmeterpreise von 100 Mark sind die Regel. „Beutelschneider und Miethaie“ schimpfte denn auch Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl (CSU) die Pensionsbesitzer. Denen überweist das Sozialamt jährlich insgesamt 31 Millionen Mark für die karge und häufig menschenunwürdige Unterbringung.
Dabei ist die Armut gerade in München eine weitgehend hausgemachte. Während Fremdenverkehrschefin Gabriele Weisshäupl mit dem München-leuchtet-Image hausieren geht, grassiert in der Weltstadt mit Herz immer stärker das soziale Elend. Trotz eines beispiellosen Booms und konstant niedriger Arbeitslosigkeit leben heute offiziell schon 86.000 Münchner am Rande des Existenzminimums. Realistische Schätzungen gehen gar von 140.000 Armen in München aus. Selbst Sozialreferent Hans Stützle (CSU) hat „eine zunehmende Polarisierung zwischen wohlhabenderen und ärmeren Bevölkerungsgruppen“ registriert.
Deutlichere Worte findet da schon Josef Treß, stellvertretender Leiter der Abteilung Sozialplanung im Sozialreferat: „Die Verteilungskämpfe werden härter, die schwächste Gruppe droht immer mehr Probleme zu machen.“ Das hat sich auch unter OB Georg Kronawitter nicht geändert, obwohl er vor fünf Jahren mit dem Motto ‚Für eine solidarische Stadtgemeinschaft’ seine zweite Regentschaft im Rathaus angetreten hatte.
Schuld daran ist eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik. Und dafür verantwortlich zeichnet nicht zuletzt Stadtbaurat Uli Zech (SPD), seines Zeichens dienstältester Stadtminister. So werden für die Verlagerung der Messe nach Riem über 50 Hektar Fläche, die ursprünglich für den Wohnungsbau vorgesehen war, geopfert. Die geförderten Gewerbeansiedlungen (umworben werden vor allem High-Tech- und Rüstungsfirmen) werden mit dem sich dadurch verändernden Arbeitsplatzangebot einen ungeheuren Verdrängungswettbewerb in Bewegung setzen.
Hochqualifizierte Arbeitnehmer aus der ganzen BRD und dem Ausland strömen schon jetzt nach München und brauchen Wohnraum. Sie können jeden Preis bezahlen und treiben dadurch die Mieten in schwindelnde Höhen. Gleichzeitig eignen sich gerade diese gewünschten Betriebe besonders gut zur Rationalisierung. Das Ergebnis: Noch mehr unqualifizierte Arbeitnehmer werden arbeitslos und können auf dem Münchner Wohnungsmarkt nicht mehr mithalten. Am Ende des sozialen Abstiegs steht die Obdachlosigkeit. Der Reparaturbetrieb Sozialpolitik ist angesichts dieser selbst produzierten Armut anscheinend völlig hilflos. Trotz der für Obdachlose und Steuerzahler gleichermaßen unzumutbaren Pensionsunterbringung reichen die städtischen Alternativen bei weitem nicht aus. Sozialreferent Stützle forderte deshalb zusätzlichen Übergangswohnraum in der Größenordnung von 1.500 Betten.
Bis dies realisiert ist, wollte das Wohnungsamt bei den Pensionen wenigstens Mindestanforderungen für Platz und Hygiene durchsetzen. „Wir werden uns von dieser Seite nicht alles gefallen lassen“, hatte Vizechef Karl-Heinz Barth schon vor einem Jahr versprochen. Zuständig für diese Problematik ist allerdings über die Gaststättenaufsicht das Kreisverwaltungsreferat, und so wurde im letzten Jahr natürlich keine einzige Pension geschlossen. Zehnmal wurde ein Bußgeld verhängt. Das Höchste betrug 4.000.- DM. Bei den gigantischen Gewinnspannen der kriminellen Pensionsinhaber nicht gerade abschreckend.
Ab Januar werden nun in Moosach, Riem und am Westkreuz die ersten drei Gemeinschaftsunterkünfte für je 100 Obdachlose bezugsfertig sein. Es handelt sich dabei um auf eine Nutzungsdauer von maximal zehn Jahren ausgelegte Behelfsbauten in „Leichtbauweise“. Die Ankündigung der Notunterkünfte hat in den betroffenen Stadtvierteln einen Sturm der Entrüstung entfacht, angeheizt durch rassistische Parolen.
Die wütende Forderung von Anwohnern an die Stadt, die Kosten für eine notwendig werdende Hundehaltung gleich mit zu übernehmen, war noch eine der harmloseren. Die braune Volksseele kocht. Immer an der Spitze der protestierenden Stammtische: die örtliche CSU-Prominenz, allen voran CSU-Stadtrat Gerhard Bletschacher. Die Erhöhung der Zahl der Obdachlosen sei „nicht so dramatisch“, das Problem Pensionsunterbringung „gar nicht so eilig“. Für die Obdachlosen schlug er die städtischen Güter vor, denn „dort könnten leicht 1.500 Menschen untergebracht werden“. Außerdem sei die Lösung des Problems sowieso nur über eine Änderung des Grundgesetzes, des Bundessozialhilfegesetzes und die Schaffung eines bayerischen Asylverfahrensgesetzes zu erreichen.
„Reine Demagogie“, nannte GRÜNEN-Stadträtin Sabine Csampai zurecht diese Forderungen, denn die sündhaft teuren Pensionen verschlingen jährlich Unsummen. Durchsetzen konnte sich die CSU mit ihrer Anbiederung an den rechten Rand nicht. Eines hat sie aber dennoch erreicht: An die Schaffung der dringend benötigten restlichen Gemeinschaftsunterkünfte für 1.200 Menschen traut sich wegen zu erwartender Bürgerproteste niemand mehr heran. Die Stadt wird auch in den nächsten Jahren pünktlich Wuchermieten an die Pensionen überweisen.
Robert Rossmann
Stadtmagazin München 7 vom 15. Dezember 1989, 20 f.