Materialien 1989
Planierraupe in die Seele
Redebeitrag von Ingrid Strobl auf der heutigen Demonstration
Liebe Leute, als ich gehört habe, Ihr ladet mich ein, auf Eurer Großkundgebung zu reden, da hab ich mich erst einmal sehr gefreut. Ich hab gedacht, wie schön, diese Leute, die damit ja schon genug zu tun haben, diese Leute lassen sich nicht auf ihren Teilkampf beschränken. Sie sehen, dass nicht nur die atomare Bedrohung uns die Luft zum Atmen nimmt, sondern, dass alles zusammengehört. Dass wir uns nicht nur gegen einen Bereich wehren können, gegen den, der uns am nächsten liegt. Dass wir z.B. zur Kriminalisierung von radikaler Politik nicht schweigen können, nur weil wir meinen, wir selbst könnten ihr entgehen, oder uns selbst hat es nicht ganz so krass getroffen.
Und dann habe ich erfahren, dass meine Einladung nicht selbstverständlich war, sondern erkämpft werden musste. Da bin ich dann doch erschrocken. Nicht meinetwegen, sondern Euretwegen. Da habe ich mir überlegt, dass es unter Euch wohl Leute gibt, die denken, staatliche Verfolgung beschränke sich auf prügelnde Polizisten auf Demos. Leute, die sich noch immer nicht mit diesem Paragraphen 129 a auseinandergesetzt haben.
Dieser Paragraph hat neben anderen vor allem zwei Aspekte, die auch Euch betreffen: Er ist ein Ausforschungsinstrument und ein Spaltungsinstrument. Man muss nur ein paar von Euch herausgreifen und gegen sie nach 129 a ermitteln, und schon kann man Euch alle bis ins Innerste beschnüffeln, weil Ihr mit den einen befreundet seid, oder auch nur bekannt, oder weil Ihr auf einer Demo, auf der sie auch waren, gefilmt wurdet. Das erleben zur Zeit unzählige Menschen aber, und das ist eine neue Entwicklung, immer weniger lassen sich davon einschüchtern.
Die Kampagne zum Hungerstreik und die Solidarität in meinem Prozess haben gezeigt, dass der Paragraph 129 a als Spaltungsinstrument nicht mehr so ohne weiteres greift. Dennoch gelingt es den Herrschenden immer wieder, uns auseinanderzubringen, nach dem Motto: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.
Unsere Gegner sind bis an die Zähne bewaffnet, und sie sind nicht dumm. Wo sie nicht dreinschlagen, da setzen sie an unseren Ängsten an, an unseren Bequemlichkeiten, an unseren Differenzen. Wenn wir ihnen nachgeben, wenn wir uns ihren Drohungen beugen, dann werden wir nie auch nur das Geringste erreichen. Wir werden gute Staatsbürger sein, randvoll gespickt mit Ängsten, und wir werden uns damit trösten können, dass es uns trotz allem noch immer besser geht als denen in der „Dritten Welt“.
Wo die Einschüchterung einmal Platz greift, da frisst sie sich wie eine Planierraupe in die Seele des Menschen. Aber, es gibt auch eine andere Erkenntnis. Die russische Sozialrevolutionärin Vera Figner hat sie formuliert, und mit diesem Satz von Vera Figner will ich schließen und euch grüßen: Mut, sagte sie, Mut ist genauso ansteckend wie Feigheit.
Wir sind. Zeitung für die Demonstration am 3. Juni 1989 in München, 8.