Flusslandschaft 1963
Lebensart
In Abgrenzung zum kollektivistischen Unrechtsregime in der Sowjetzone pflegt die westliche Wer-
tegemeinschaft das Hohe Lied persönlicher Freiheit: „Bei uns kann jeder machen, was er will.“ Dass tatsächlich nur einige wenige machen können, was sie wollen, während die überwiegende Zahl von Mitmenschen ihre Haut zu Markte tragen muss, um leben zu können, wird bei der Feier des Individualismus geflissentlich verschwiegen. Ganz im Gegenteil: Auch die kleinen Leute sollen mit der Illusion der Wahlmöglichkeiten zufrieden gestellt sein. Massenhafte TEILHABE an Mode-
erscheinungen ist von den Modeschöpfern gewünscht, TEILNAHME an Modeerscheinungen lässt kurzzeitig Glücksmomente aufflackern, ohne den Mangel grundsätzlich zu beheben. So entsteht ein Perpetuum mobile: Die häppchenweise Zuführung von Surrogaten führt nicht zu einem Gefühl der Sättigung, sondern zu noch größerem Hunger.1
„Zur Lage / Die Freiheit hängt / in der Schlinge des Lohnstreifens. / Sie bäumt sich auf / vor den Kreidestrichen der schulden. / Sie ist versichert: / vom Gesetz. / Der Krankheit eine Kasse, / dem Tod einen Verein, / der Lust eine Nummer! / Sträflingszebra / kleidet sie, / die ich nicht meine. / Der eigene Wille / führt direkt in die Psychiatrie. / Heinz Potoschnig“2
Manchmal sind die Menschen schon viel weiter. Vieles ist zeitgemäß geworden und sollte ohne störenden Ballast abgewickelt werden. Sprich: Grenzen zwischen Ländern, Zölle, feudale Abhän-
gigkeiten und verkrustetes Denken hindern die Entfaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf einem immer internationaler werdenden Markt. Bei einer einseitig ablaufenden Modernisie-
rung sehen wir die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, entdecken wir, dass alte Verkehrsregeln dem den heutigen Anforderungen an Verkehr nicht mehr entsprechen. Wie Mehltau liegt eine „herrschende Moral“ über dem Land und behindert Veränderung. Rolf Gramke thematisiert den Zustand und trägt dazu bei, dass immer mehr Menschen sich für eine „nachgeholte“ Modernisie-
rung einsetzen. Der Autor geht aber weiter: Eine nachgeholte Modernisierung macht das herr-
schende Wirtschaftssystem nur effizienter. Modernisierung allein reicht nicht aus.3
Seit 1952 befindet sich im Vorbau von Vorhoelzers Tela-Post an der Tegernseer Landstraße das Café Tela. Trotz vieler Proteste muss es schließen; es entsteht eine Postkantine.4
1 Siehe „Es ist schwer, ein Mensch zu sein!“ und „Der Liebestraum von Liszt“ von Rolf Gramke.
2 Simplicissimus 35 vom 31. August 1963, 557.
3 Siehe „Gesellschaft – Sexualität – Verbrechen“ von Rolf Gramke.
4 Vgl. Thomas Guttmann (Hg.), Giesing. Vom Dorf zum Stadtteil. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart Giesings und Harlachings, München 1990, 230.