Materialien 1989

Rundschlag

Weiter Ausholendes zur tendenzen-Umfrage in Sachen „Kunst heute“

„Verbrennt mich!“
(Oskar Maria Graf an die neuen Machthaber in Deutschland aus dem Exil, nachdem seine Werke bei der Bücher- und Bilderverbrennung im Hof der Reichsfeuerwache verschont worden waren)

I.

Meine Freunde drängen mich, in ihrer Umfrage zur Zeitkunst die Meinung zu sagen. Ich habe gezögert wie ein zum Tode Verurteilter, die berühmte Geste des Andreas Hofer zu machen: mir die Brust (d.h. das Hemd) aufzureißen, damit meine Feinde wissen, wo es hingeht beim Erschießen. Schließlich hat man eine Frau, ein Heim, sogar eine kleine Galerie – wer schmeißt das schon alles hin um der Wahrheit willen? Und: ist es nicht lange Jahre so dahingegangen, dass die offizielle Kunst immer lachhafter, immer großkotziger und kleinkarierter zugleich geworden ist, die Vernunft in den Künsten dagegen immer schwächer – ganz zu schweigen von Qualität – von welchem Maßstab auch immer? So dahingegangen – und diese kleine Zeitschrift, die einmal angetreten war, den Gegenkräften zum Durchbruch zu verhelfen, kommt gar nicht mehr darum herum, auch irgendwie Anschluss zu finden an den großen Treck (um naheliegenderen Begriffen wie „großen Dreck“ aus dem Wege zu gehen).

Den selbstmörderischen Mut, das Folgende auszusprechen, nehme ich aus zwei Anlässen. Erstens aus dem leisen Schock über die Tendenz der meisten Stimmen im ersten Teil dieser Umfrage (in tendenzen Nr. 165): wenn alte Bekannte oder Freunde wie Jörg Boström, Georg Bussmann, Kaspar Maase oder Ulla Schenkel die Kunstwelt eigentlich ganz in Ordnung finden. Und zum Zweiten aus der elementaren Lebenserfahrung nach 35 Jahren exponierter Stellung auf allen Ebenen dieses kunst- und kunstwissenschaftlichen Betriebes. Und diese Erfahrung lautet: man muss schon ganz schön abgeschlafft oder angepasst sein, wenn man denen, die heute oben dran sind – den Richtungen, den Künstlern, den Managern – auch nur den schäbigsten Spritzer Farben glaubt, den sie verklecksen, auch nur das verbogenste Stückchen Bettgestell, das sie (auf dem Rücken von Beuys) mit dem süßen Lächeln von bildnerischen Jesuiten als Objekte in die Räume pflanzen, von dem Schaum der Wörter drumherum ganz zu schweigen.

Und man muss schon ganz schön auf diesen Leim gekrochen sein, wenn man meint, es habe sich seit der Gründung dieser Zeitschrift im Jahre 1960 an der Lage der alternativen Vorstellungen, Konzeptionen, Begabungen usw. Wesentliches verändert, trotz „Pluralismus“ im Kunstbetrieb und großer Freiheit. Ich bin ein alter Hamburger. Ich weiß, was es mit der großen Freiheit auf sich hat.

Und ich kenne durch meine Tätigkeit als Graphikverleger buchstäblich Hunderte von Künstlern und ihre Lage sehr genau, nicht nur ihre materielle, viel wichtiger noch ihre intellektuelle: nämlich, was es kosten würde, da oben dabei zu sein. Hut ab vor allen, die es anders versuchen. Für diese arbeite und schreibe ich und nicht für den internationalen Kunstquark. Ich dachte, diese Zeitschrift hielte es ebenso.

II. Gegen den Strom

Allerdings bilde ich mir ein, längst nicht mehr zu schreiben für eine schweigende Minderheit, sondern für eine mehr und mehr potente Mehrheit. Und deren Tendenz lautet: Gegen den Strom, gegen die Feuilletons, die zum aberhundertsten Male Beuys und seine Nachfolge zum Jahrhundertereignis erklären, gegen die Schickeria von Palette und Brieftasche! Du kannst als Künstler heute nur zu dir selbst kommen, wenn du laut lachen gelernt hast über die jüngsten Abteilungen unserer Kunstmuseen! Dies oder ähnliches sage ich längst nicht mehr allein (und ich dachte, diese Zeitschrift bilde ein Forum für dieses Lachen).

Von den vielen, die nicht schweigen zu diesem Betrieb, nenne ich Alfred Hrdlicka im Weltmaßstab und Helmut Goettl, Jürgen Weber oder Hans Platschek in dieser Zeitschrift. Aber für die erklärte Meinung zu diesen Fragen von herausragenden Leuten, die es nur nicht so mit den Worten haben, ließen sich Dutzende bekannter Namen nennen: von Richard Heß zu Erhard Göttlicher, von Gertrude Degenhardt zu Sabine Hoffmann, von Karl Heinz Meyer in Bielefeld zu Gerhart Bettermann in Karby/Kappeln.

Und um einen von den Jungen zu zitieren, der auf dem Feld der Druckgraphik tätig ist (wo die Bäume des Schwachsinns sowieso nicht so gedeihen, weil die guten alten drucktechnischen Verfahren das nicht so recht hergeben), um Christoph Hessel (geb. 1952) aus einem Brief zu einer brandneuen Mappe über Erotik in der BRD zu zitieren: „Es bleibt also die Frage: Kritik woran? An den lieben Zeitgenossen, deren Sexualverhalten und Praktiken durchaus die Verrohung ihres Seelenapparates durch den täglichen Überlebenskampf verraten. Das bisschen Sphäre des Privatvergnügens, das ihnen gelassen wird … den Maßstäben von Gewalt und Ausnützung – um nicht Ausbeutung zu sagen – unterworfen … Also von uns aus keine Darstellungen, die den Spaß am Sex in „Paaren“ o. ä. – was auch künstlerisch sehr interessant wäre – umzusetzen ….“

So ähnlich hat ein George Grosz die Sache zumindest in seinem Frühwerk auch gesehen. Unsere international herumgereichten Stile und Spitzenkünstler sehen dagegen auch diese Thematik wie der Herr Blödmann Konsument: Sie wirbeln Sex and Crime, Lust und Rohheit durcheinander und zitieren als Alibi – wenn es hochkommt – aus der Bilderwelt der Medien.

Also: ich meine zu schreiben gegen die Cliquen, die das machen und abkassieren, was aktuelle Kunst heißt, und für die andere Front in den Künsten, die dort verläuft, wo die offiziöse Kunst aufhört und wo der Kitsch beginnt: von oben und gegen unten gerechnet.

Das heißt für diejenige Mehrheit der Künstler in den meisten Ländern der Welt, die sich täglich abschindet in Form und Inhalt mit dem Guten und Wahren in den Künsten: diesem Credo des Thomas Mann, als er schon alt war und an der faschistischen Barbarei zum politischen Künstler geworden.

III. Als jeder kleine Moritz meinte, Tachist sein zu können

Wir haben diese Zeitschrift tendenzen gegründet gegen die Diktatur der Abstrakten, als die Gegenstandslosigkeit sich einbildete, säkular zu werden, und jeder kleine Moritz meinte, Tachist sein zu können. Wir haben die Saat dieser kritischen Haltung aufgehen sehen mit der Wut der Jungen und dem Recht der zurückgesetzten Älteren über und gegen die Entwicklung der Kunst und dieser Gesellschaft, mit dem Knall an Hochschule und Kunsthochschule um 1968, mit den aufflammenden Wünschen, mehr zu wissen und womöglich anschließen zu können an die gesellschaftskritische und die realistische Alternative in Kunst, Kultur und Politik.

Ich stehe – dies ganz persönlich – vor dem Scherbenhaufen der Hoffnungen dieser Jahre. Sie haben mit ihrem Pluralismus von oben genau so schnell reagiert wie nach 1950 mit der totalen Ausschaltung der realistischen Alternative in den Künsten und der antifaschistisch-demokratischen in der Politik.

Das kritische Potential in den Künsten hatte nach 1968 nicht einmal genügend Zeit, die infantilen Züge abzustreifen, da kamen sie schon mit ihrer ganz großen Freiheit.

Wie sollte auch ein Staat, der auf dem Wege war, der reichste Staat der Welt zu werden (meinetwegen zusammen mit der Schweiz), wie sollte auch ein solcher Staat eine kritische Kunst hinnehmen und aufmüpfige Künstler? Warum sollten nicht auch die Maler endlich aus dem Schatten treten, glücklicher werden wie andere Lohnempfänger gegenüber ihrer Großvätern, satter, dümmer, großspuriger, beschränkter und dreister: kurz, dem auslaufenden Modell der Bundesdeutschen zum Jahrhundertende (und ihrer herrschenden Kunst) immer ähnlicher? Wer nach Mallorca oder in die Südsee jettet, zum Wochenende nach Paris zum Galeriebummel, wer seine Professur hat für die Heranwachsenden, die wenig anderes mehr suchen als ihre Nische am Markt, wer auch nur einmal Besuch hatte von einem Kunstonkel oder einer Tante aus dem Raum Köln-Düsseldorf, wer auch nur lebenslang von solchen Hoffnungen lebt wie die Mehrheit der armen Schweine, die bloß darauf hoffen und gar nichts haben, keinen Erfolg und nischt können – wie sollte der anders spritzen, schlitzen oder kritzeln, als ihm das die Kunstonkel, die „Süddeutsche“ oder der eigene Prof. nahelegen? Ein reiches Land mit vielen armen Künstlern – nischt hat sich verändert seit Bismarcks Zeiten. Bloß dass die Künstler je dümmer werden, desto erfolgreicher sie sind, aber das gab’s ja auch in den Gründerjahren von damals.

Wer aber als Künstler über die Berufsverbände (oder gar die IG Medien) nicht hinauskommt, an die Sonne, an die Leute heran, die da jetten und wasserskiern und bei der Abendöffnung in Münchens Maximiliansstraße ein paar Tausender hinblättern für die Riesenleinwand einer Begabung, die eben hinausgewachsen ist über die Berufsverbände und gesellschaftskritischen Mief – dem ist doch nicht zu helfen, der trägt das Kainszeichen des Versagers doch mitten auf der Stirn!

IV. Um Beckmanns willen: lacht!

Versäumen wir doch niemals zu wissen und auszusprechen, dass längst eine Kunst an der Macht ist, die genauso wenig taugt wie die Schickeria, die sie kauft, und die Trends, auf denen sie settet. Ich glaube diesem ganzen Betrieb kein Wort von dem, was die Medien darüber tönen oder die Fachschreiber von den Gesetzen der Innovation. Ich glaube jedem Werbehengst und jedem Designer, was dazu zu sagen ist, aber wer als Künstler da hineingerät, den packt der Malstrom wie den Helden des Edgar Allen Poe. Man macht uns überwältigend vor und weiß, dies alles müsse so und nicht anders sein: Der Schritt des Jahrhunderts in den Künsten: Max Beckmann, Beuys und Immendorff!

„Lachen links“ nannte Tucholsky eines seiner Bücher. Anderswo darf sowieso nicht gelacht werden. Also lacht, Leute, um Beckmanns willen, lacht!

V. Wirkliche Könner wie Peter Mell

Ich habe einen einzigen von den neuen Göttern mit anbeten helfen: Peter Mell, über den erstaunlicherweise hier in dieser Zeitschrift ich, der Ketzer, als erster angemessen publiziert habe. Und ich bezweifle natürlich nicht im Geringsten, dass bildnerische Kaliber von seinem Format etliche da oben dabei sind, wie die letzten Saurier bei der tödlichen Klimaschwankung. Bloß zeigen auch die neuen Arbeiten von Peter Mell schon die Schleifspuren des Kunstbetriebes, und bei anderen sind oft nur noch die Schleifspuren bildnerisch zu bewundern. Ich traue den wirklichen Könnern wie Mell die Fähigkeit zu, wider die Schleifspur zu löcken. Das macht dann das kritische, das eigentliche Potential in diesen Kreisen. Viel ist es nach meinem Geschmack nicht und teuer bezahlt, wenn ich an Mells frühe, ungeheuerliche Nachtbilder denke.

VI. Penck und Schäfer-Ast

Auf der anderen Seite: es gehört wirklich nicht viel dazu, einen Malerfürsten wie Penck schlichtweg zu nennen: einen größenwahnsinnigen Schäfer-Ast mit dessen Strichmännchen, bloß ohne dessen Charme. Es gehört nur dazu, den Wust von Schwachsinn zu durchleuchten, der über unsere Strichmännchen-Meister verzapft wird, oder besser – diesen Wust gar nicht zu konsumieren. Aber natürlich bin ich mir im klaren darüber und habe das auch bei Bekannten immer wieder grinsend beobachtet, wie herrlich es sein muss, dazuzugehören, wenn aus Strichmännchen säkulare Kunst wird. Wie das die Kunst erleichtert: den ganzen Ballast von Wissen, Können und menschlichem Charakter oder vielleicht sogar seherischem Durchblick einfach abwerfen. Wie leicht es für den Betrachter wird – den die Comics, die Werbegraphik oder die Fotoszene längst verwöhnen –, mithalten zu können bei Kritzeleien. Wie nahe diese nahe Kunst dem Volk und seinem(n) Bedürfnis(anstalten) kommt. Lacht Leute, um Beckmanns willen, lacht!

VII. Lacht, Pencks und Immendorffs, lacht!

Spätestens an dieser Stelle wird man von Feinden und Freunden elitär geschimpft. Die Betrachter, geschweige denn das Volk genannte Wesen rühre niemand uns an! Der neuartige Massenbesuch in den Museen erfülle uns mit frommen Schauern: irgend wie geht es aufwärts mit dem öffentlichen Geschmack! Die Moderne wird populär, das schreien die Feuilletons von den Dächern. Friede, Freundschaft, Eierkuchen, das letztere auf 5 × 4 großen Formaten in den aktuellen Sälen der Kunsttempel. An Beckmann vorbei zu Penck und Immendorff: die Rechnung stimmt. Dieses von elitären Liebhabern anderer Kunstrichtungen und anderer politischer Möglichkeiten so geschmähte Wählervolk der BRD nimmt die Moderne an wie ein Heranwachsender die Tischsitten.

Und in den Osten ist längst Bewegung gekommen! Beckmann, Penck und Immendorff in Moskau, vielleicht sogar in Ostberlin? Und China, vielleicht einmal sogar nach Tibet? Was sollen da diese dünnen, verqueren Stimmchen der Zukurzgekommenen in den Künsten, die nicht vom Menschen lassen wollen, nicht von der Landschaft, nicht von den alternativen Möglichkeiten unserer Kunstgeschichte? Ohne jede Aussicht: wahrscheinlich auch nicht mehr auf Moskau, auf Ostberlin? Lacht, Leute, Pencks und Immendorffs, lacht!

VIII.

Angefangen hat das Schleudern in dieser kunstgeschichtlichen Kurve natürlich mit Beuys. Für die Abschaffung der Kunst hat er Beträchtliches geleistet, und für Leute, die eben das bewundern, was man das Dadaistische an Beuys nennen kann, seinen Impetus der Kunstzerstörung wie beim frühen Heartfield, habe ich vollen Respekt.

Aber was ist – zuallererst bei Beuys selbst – daraus geworden? Was anderes als weihrauchstinkende Kunst statt Antikunst!

Der Meister selbst, sein priesterliches Gehabe, seine Rätselsprüche, dieses dauernde Inszenieren eines darstellerischen und geistesgeschichtlichen Schmarrens vor einer atemlosen Gemeinde, dieses Austeilen des neuen kunstgeschichtlichen Segens: Gehet hin und tuet desgleichen!

Ich erinnere mich an das Defilee vor dem lebenden Beuys auf der documenta Anfang der siebziger Jahre. Beuys, in seinem Kampfanzug mit Hut, saß hinter einem Tisch und hüllte sich in Rätselsprüche. Mit meinen Braunschweiger Studenten war ich hingefahren, und die drängten mich natürlich zu dem fälligen Wortwechsel im Sinne meiner Polemiken zum Gegenstand. Ich stellte mich also hinten an an die Reihe der Hilfesuchenden wie nach Opernkarten in München, aber als ich dran war, hatte die weihevolle (höchstens von unpassendem Ulk unterbrochene), von tiefer Verehrung geschwängerte Stimmung längst ihre Wirkung getan auf mein Selbstgefühl, und ich konnte nur stammeln: „Sind Sie Herr Beuys?“ Schweigender Grimm, hätte Schiller formuliert, loderte in seinen Augen. Erst heute, beim Wiedererinnern, merke ich, dass dies wahrscheinlich die letzte vernichtende Kritik an Beuys in der Öffentlichkeit gewesen ist.

IX. Käse im Angebot und Kunst dagegen

Und also stehen wir in den Künsten zu Ende der achtziger Jahre, und wer oben mithalten will in den Künsten, der kann nichts andres mehr. Sie innovieren, basteln, verschrotten, rudimentieren, verkaspern und verscheißern alles Ernsthafte im Bereich der Gestaltung: immer noch mal. Oder der Pluralismus: Sie stelzen gegenständlich auf neoklassizistischen oder neoromantischen Kothurnen ins Bild, zeigen den Realisten, wie man es glatter, eleganter, mystischer, unverständlicher machen kann, lauter Meißner Porzellan in Öl. Es fehlt sich eigentlich nix an Stilmöglichkeiten wie in unseren Delikatessläden, wo ja auch nicht plötzlich die Käseabteilung fehlen könnte: also der Käse in der Zeitkunst darf keinesfalls fehlen! So eine wirklich gut sortierte, pluralistische Kunstszene ist komplett mit einer Neigung zum Hautgout bei gesalzenen Preisen.

Früher drückten sich die Armen draußen an den Scheiben die Nasen platt.

Heute machen sie ihre Sache selbst. Zumindest dies, meine Freunde, ist anders geworden, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen – auch und ganz entschieden diese Zeitschrift tendenzen, der ich dies auch fürderhin zutraue.

Richard Hiepe


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 166 vom April 1989, 75 ff.

Überraschung

Jahr: 1989
Bereich: Kunst/Kultur

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