Materialien 1990

„Frauen in bester Verfassung“

Als sich Anfang des Jahres 1990 abzeichnete, dass eine „Wiedervereinigung“ zu erwarten sei, erinnerte ich mich an die Präambel des Grundgesetzes, die ich so oft in meinen Sozialkunde-Klassen durchgenommen hatte: Für den Fall einer Vereinigung enthielt die Präambel den Auftrag für eine neue Verfassung. Eine neue Verfassung aber bedeutete die Chance, das Grundgesetz zu modernisieren und um spezielle neue Rechte zu ergänzen, die Frauen betreffen. Was fehlt den Menschenrechten, damit sie auch Frauenrechte werden? Wir machten uns an die Arbeit. An einem Apriltag 1990 saßen wir zu dritt an unserem ovalen Esstisch in Neubiberg, drei Freundinnen (und Feministinnen): Susanne von Paczensky, Renate Sadrozinski und ich. Das Ergebnis war eine Rohfassung von 8 Forderungen. Den schlagkräftigen Namen hatten wir auch schnell gefunden: „Frauen in bester Verfassung“.

Zu allererst war es wichtig, den vorhandenen Gleichheits-Artikel 3 zu ergänzen, Frauenförderung sollte auf keinen Fall mehr mit genau diesem Artikel drei verhindert werden können (unter Berufung auf die Gleichheit der Männer!). Die revolutionärste Forderung aber war wohl die Forderung nach einem eigenen neuen Grundrecht, dem Grundrecht der Frauen auf körperliche Selbstbestimmung – ohne Wenn und Aber. Nach 20jährigem Kampf um den § 218 (den die Humanistische Union an vorderster Front mitgeführt hat), schien uns die Zeit reif zu sein: Wir drei Frauen waren nun überzeugt von der Notwendigkeit eines weiblichen Grundrechts. Nur die Frau selbst kann entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht. Übrigens nicht nur wir allein dachten so, etwa gleichzeitig forderte die amerikanische Feministin Gloria Steinern ein neues Menschenrecht: the right of reproductiv freedom. Hinzu kam eine neue Definition von Familie, ein Verbot auch häuslicher Gewalt, die Forderung nach gleichem Lohn und der Asylgrund Frauenverfolgung.

Diese Initiative wurde noch im selben Sommer von der HU übernommen und verbreitet. Unzählige Frauengruppen in ganz Deutschland machten sich daraufhin die Forderungen zu eigen. Sie wurden zur Grundlage des Frauenkongresses in der Frankfurter Paulskirche Ende 1990 und des dort verabschiedeten Frauenmanifests. Als dann aber die Vereinigung vollzogen war, ließ sich der deutsche Bundestag erst mal Zeit. Zwar war im Einigungsvertrag eine Frist von zwei Jahren für eine neue Verfassung gesetzt worden, aber fast zwei Jahre lang passierte auf Parlamentsebene nichts. Inzwischen gründeten sich verschiedene politische Initiativen zur Erneuerung der Verfassung. Gefordert wurde vieles: von der Einführung des Volksentscheids bis zum Recht auf Arbeit. Alle diese Gruppen schlossen sich im Juni 1990 zusammen im „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“. Unser Katalog der „Frauen in bester Verfassung“ wurde auch hier zur Grundlage der Forderungen, die Frauen betrafen. Bis auf eine Ausnahme.

Exkurs: Die fortschrittlichen Männer

Am Ende langer Diskussionen einigte sich das Kuratorium 1991 auf einen alternativen Verfassungsentwurf. Interessanterweise gibt es nur einen einzigen Punkt, in dem keine Übereinstimmung zu erzielen war – und dieser Punkt steht auch in dreifach kontroverser Fassung im endgültigen Entwurf: er betrifft das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung. Hier scheiden sich die – männlich/weiblichen – Geister. Straffreiheit: ja – da war man sich schon einig. Aber ein Recht? Ohne Einschränkungen? Und nicht nur im Kuratorium, auch in der HU selbst, war diese Forderung nach weiblicher Freiheit für viele Männer nicht nachvollziehbar. Auch sonst sehr fortschrittlichen Männern fällt es schwer, zu akzeptieren, dass das Schicksal der Schwangerschaft, die sie ja nun schließlich mitverursacht haben, letzten Endes nicht ihrer Mitbestimmung unterliegt. Wenn das Paar sich nicht einigen kann, muss eben die Frau die Verantwortung allein übernehmen. Hier scheinen sich Männer und Frauen nur schwer verstehen zu können.

Die Verfassungsänderung

Die Frauen in der SPD hatten dann die schöne Idee, in Fortsetzung der ehemals verfassungsgebenden Versammlung von Herrenchiemsee jetzt eine Konferenz für Frauen auf Frauenchiemsee zu veranstalten, im August 1992. Hier wurden die inzwischen zahlreichen Überlegungen – Runder Tisch, „Frauen in bester Verfassung“, Jusofrauen und Juristinnenbund – zusammengetragen.

Kurz vor Ablauf der selbstgesetzten Zweijahresfrist bildete schließlich der Bundestag doch noch eine Verfassungskommission. Unsere ursprüngliche Forderung nach einer paritätisch besetzten Kommission wurde nicht annähernd erfüllt. Aber der Moment war gekommen, jetzt unseren Forderungen noch mehr Nachdruck verleihen. Inzwischen unterstützten so viele Gruppen „Frauen in bester Verfassung“, dass uns die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzartikel 3 im Jahre 1949 wieder einfiel. Damals haben die Frauen waschkörbeweise Postkarten an den Parlamentarischen Rat geschickt zur Unterstützung der umstrittenen Gleichberechtigungsforderung von Elisabeth Selbert.

Also beschloss die HU, massenweise (und das ist ja recht untypisch für die HU) Postkarten in Lila drucken zu lassen, welche die Forderungen von „Frauen in bester Verfassung“ wiedergaben. Das sah dann – wenn auch hier aller schönen Farben beraubt : so aus:
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Frauen in bester Verfassung? Ein Staat, der sich der Demokratie verpflichtet, darf nicht länger bei der Proklamation der Gleichberechtigung stehen bleiben. Ein einziger Artikel „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art 3 GG) reicht nicht aus, um Frauen aus ihrer jahrhundertealten Benachteiligung zu befreien. Deshalb fordern wir neue Frauenrechte.

1. Der Staat fördert die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen.

2. Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht.

3. Frauen und Männer, die mit Kindern oder Pflegebedürftigen leben, haben Anspruch auf Schutz und Förderung durch den Staat.

4. Jede Frau hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Der Staat schützt Frauen vor männlicher Gewalt.

5. Frauenarbeit wird nicht geringer bewertet und entlohnt als die des Mannes.

6. Das Recht auf freie Meinungsäußerung findet seine Grenzen dort, wo die Würde der Frau berührt ist.

7. Öffentliche Erziehung wirkt der Fixierung der traditionellen Geschlechtsrollen entgegen.

8. Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, genießen politisches Asyl.

Die Gleichberechtigung muss auch in der Sprache der Verfassung zum Ausdruck kommen: sie soll klar machen, dass das Volk nicht nur aus Männern besteht.

Erst wenn wir eine solche Verfassung haben, sind wir

Frauen in bester Verfassung!
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Andere Gruppen griffen die Idee auf, schlossen sich an oder druckten eigene Postkarten: Die ASF, die Gewerkschaftsfrauen, der Deutsche Frauenrat. Als es schließlich zum Hearing zu Artikel 3 kam, musste erstmal wegen des großen Publikumsandrangs ein neuer Saal gesucht werden – keine andere Verfassungsänderung fand ein solches öffentliches Interesse. Dann wurden tatsächlich ganze Waschkörbe voller Postkarten hereingetragen. Als eine der Sachverständigen trug ich noch einmal unsere Forderungen vor. Den Vorsitz der Kommission hatte Rupert Scholz, CDU. Er schien nicht sehr geneigt, auch nur ein Verfassungskomma für Frauen zu verändern. Schließlich einigte man sich dann im Bundestag auf eine Ergänzung des Artikels 3 um den Zusatz:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Dies ist eine der wenigen Verfassungsänderungen überhaupt, auf die sich die Parteien einigen konnten. Letzten Endes haben das natürlich die vielen Frauen bei den Parteien durchgesetzt. Und doch: Die erste Organisation, die diese Initiative öffentlich machte, ausarbeitete und verbreitete, war die HU. Durch diese Verfassungsänderung, und damit komme ich wieder auf das Antidiskriminierungsgesetz zurück, ist seit 1992 die gesetzliche Grundlage für Frauenförderung und Quotierung allüberall gegeben. Könnte es sein, Frau Bergmann, dass dem Kanzler dies entgangen ist? Sollen wir ihm Postkarten schreiben? Seit acht Jahren wartet da im Artikel 3 ein Verfassungsauftrag auf seine Verwirklichung!


Heide Hering: „Geschafft! Eine Verfassungsänderung! Über eine erfolgreiche HU-Initiative in der Frauenpolitik“ in vorgänge 155 Heft 3 vom September 2001, 117 ff.

Überraschung

Jahr: 1990
Bereich: Frauen

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