Materialien 1992

Die Toten stellen uns Aufgaben

am 21. Juli 1992
hat sich MARION RÖSER umgebracht
sie konnte nicht weiterleben
weil ihr vater sie ermordete
wir wünschen ihm
einen baldigen und qualvollen
tod

„Ja, aber die Toten stellen uns Aufgaben, oder? Wollen gefeiert … sein“ (S. 25), schreibt Ruth Klüger, Frau jüdischer Herkunft in ihrem Buch „weiter leben“1 Sie beschreibt darin aus einer klaren, ehrlichen, frauenspezifischen Sicht nationalsozialistische Verfolgung, Folter und Mord. Ihr begegnet immer wieder die patriarchale In-Besitz-Nahme von Geschichte: Sogar die Erinnerungen werden ihr abgesprochen, geleugnet, nicht geglaubt. „Vergangenheitsbewältigung“ und ihre offiziellen, ritualisierten Ausformungen sind männlich besetzt. Ruth Klüger schreibt über ihre Versuche, mit dem Wissen über ihre eigene Verfolgung und der Ermordung von Verwandten und FreundInnen zu leben, der patriarchalen In-Besitz-Nahme Eigenes entgegenzustellen.

Immer wieder kamen mir beim Lesen Bilder von einer toten Freundin und meinem Versuch, einen Umgang mit ihrem Selbstmord zu finden. Marion erfuhr die selbstverständliche, „normale“ Männergewalt gegen Lesben/Frauen/Mädchen, brachte sich um. An meine Zerstörungswut nach Marions Tod haben mich Ruth Klügers folgendes, im KZ geschriebenes Gedicht „Kamin“ und ihre späteren Gedanken dazu schmerzlich erinnert:

„Keiner ist mir noch entronnen,
Keinen, keinen werd ich schonen.
Und die mich gebaut als Grab
Schling ich selbst zuletzt hinab.
Auschwitz liegt in meiner Hand,
Alles, alles wird verbrannt.“
(S. 164)

,,… ,es wird ihn schon erwischen, den Kerl, [einen KZ-Aufseher; Anm. Annette] früher oder später wird es ihn erwischen.“ „Das war damals ein Trost, aber es war auch ein Unsinn, denn es hat ihn sicher nicht erwischt. Wenn er nicht in Südamerika eine bequeme Villa hat, so lebt er vielleicht in Göttingen und ist der Rentner, der mir neulich in Schmidts Drogerie-Markt aufgefallen ist, als er sich zusammen mit einer jungen Verkäuferin den Mund über die schmarotzenden Aussiedler aus Polen zerrissen hat. ‚Die Ausländer, die sollt man vergasen’ …“ (S. 165)

Ebenso wie die meisten damaligen und heutigen faschistischen Gewalttäter ungestraft als angesehene Bürger ihren festen Platz in dieser Gesellschaft haben, so sind auch die Gewalttäter gegen Lesben/Frauen/Mädchen unbescholtene Bürger, Angehörige des herrschenden Geschlechts, das seine Macht zum ungestörten und ungestraften Missbrauch benützt.

Einer von ihnen ist Marions Vergewaltiger, ihr Vater.

Welche Aufgaben stellt mir die tote Freundin?

Nach Marions Tod setzten wir, einige Freundinnen von Marion, gegenüber ihrer Mutter durch, dass Marion nicht christlich beerdigt wurde und dass ihr Vater nicht anwesend sein würde. Das haben wir, zusammen mit Marions Schwester, noch geschafft, obwohl wir gegen das Vater-Mutter-Kind-Gefüge rechtlich keinerlei Handhabe haben.

Zu mehr hat es nicht mehr gereicht.

Jede hat für sich getrauert. Eine gemeinsame Form des Umgangs mit solch einem Tod haben wir nicht gefunden. Es gab keine mir bekannten Rituale, auf die ich hätte zurückgreifen können, um eine Freundin zu feiern und zu betrauern. Und erst recht keine für die Freundin, die sich aufgrund der ihr angetanen sexuellen Gewalt umgebracht hat.

Da sexuelle Gewalt gegen Lesben/Frauen/Mädchen bagatellisiert wird, gibt es natürlich keine „offiziellen“ Formen der Anerkennung von dadurch verursachtem Leid, keine Gedenksteine, Mahnmale, Trauerplätze.

Dass wir es nicht geschafft haben, unsere eigenen Formen zu finden, hing – glaube ich – aber auch mit der brutalen Deutlichkeit zusammen, mit der Marions Selbstmord uns an unsere eigenen Erfahrungen erinnert hat, an das Ausmaß der Zerstörung, die Männergewalt anrichtet.

Ich hatte dem nichts entgegenzusetzen gehabt.

Mir bleibt, mich zu erinnern: die rasend schnell vergessenen Bilder aus der Zeit, als sie lebte und starb wieder auszugraben. Das klingt nach so wenig. – Mir bleibt, mich daran zu erinnern, dass es das nicht ist. Es ist sehr viel und ich brauche dazu Vieles, das nicht selbstverständlich ist: Orte, die Schutz und Raum geben; Lesben, mit denen ich lernen kann, darüber zu reden … der Zerstörung etwas entgegenzusetzen.

Mir bleibt, mit meiner Wut so umzugehen, dass sie sich nicht gegen mich kehrt, sondern gegen die Männer; die sie hervorrufen. „Rache“ ist das Wort, das mir ins Hirn und auf die Zunge will.

Annette

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1 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. dtv, München 1994.


FRAZ. Frauenzeitung 12 vom Sommer 1995, 12.

Überraschung

Jahr: 1992
Bereich: Frauen

Referenzen