Materialien 1992

Isar-Wellpappe: Ein Betriebsrat nutzt seinen Gestaltungsspielraum

Betriebsvereinbarung zum Übertarif in einem Mittelbetrieb

Wie stellt man Gerechtigkeit und Verlässlichkeit bei den übertariflichen Zulagen her? Wie kann man Zulagen so gestalten, dass sie auch den tatsächlichen Reproduktionserfordernissen der Beschäftigten Rechnung tragen? Wie schützt man die Zulagen vor Anrechnungen bei Tariferhöhungen? Der Betriebsrat von Isar-Wellpappe, einem Betrieb mit etwa hundertsechzig Beschäftigten im Norden Münchens, hat nach langer Vorbereitung und intensiven Verhandlungen im Jahre 1992 eine Vereinbarung gemäß § 87, Abs. 1, Ziffer 10 BetrVG abgeschlossen, die sich in mehrfacher Hinsicht sehen lassen kann und dazu anregt, anderswo ähnliche Betriebsvereinbarungen abzuschließen.

Die Belegschaft, hundertzwanzig Arbeiterinnen und Arbeiter und fünfundvierzig Angestellte, hat in mehreren Arbeitskämpfen im Tarifbereich der Papierverarbeitung einiges zur allgemeinen Verbesserung der Arbeits- und Einkommensbedingungen beigetragen. 1990 wurde ein neuer Lohnrahmentarifvertrag durchgesetzt, der in seiner betrieblichen Umsetzung für viele Beschäftigte erhebliche Verbesserungen des Tarifeinkommens mit sich brachte.

Nach Abschluss der Eingruppierungsverhandlungen blieb ein großes Problem: Der Wildwuchs an übertariflichen Zulagen. In den Jahren zuvor unterlag es dem Verhandlungsgeschick und der relativen Stärke von einzelnen Arbeitnehmern oder Arbeitnehmergruppen, individuell die eigenen Zulagen zu erhöhen. Der Betriebsrat bemühte sich zwar stets, Gleichbehandlung in den einzelnen Abteilungen herzustellen, konnte aber nicht verhindern, dass die Schere unter Arbeitern und Angestellten nach wie vor weit auseinander klaffte. Und einheitliche Kriterien gab es schon gar nicht: Die Zulagen wurden teilweise auf den Stundenlohn gezahlt, teilweise waren es monatliche Festbeträge.

Geschäftsleitung drohte immer wieder mit Anrechnung

Der Betriebsrat war noch durch einen anderen Tatbestand zu seinem Vorhaben motiviert: Die Geschäftsleitung drohte immer wieder einmal offen oder versteckt, die Tariferhöhungen ganz oder teilweise auf die Zulagen anzurechnen. Dabei konnte sie sich auf die Tatsache stützen, dass sie überwiegend, als „freiwillige jederzeit anrechenbare Zulagen“ deklariert waren.

Im Sommer 1991 verlangte der Betriebsrat Verhandlungen über die Ausgestaltung der Zulagen gemäß § 87, Abs. 1, Ziffer 10 BetrVG. Die Geschäftsleitung hatte zuvor mitgeteilt, dass die „einzelnen Zulagen nur an den Arbeitsmarkterfordernissen orientiert“ seien.

Betriebsrat entwickelte Leitlinien für eine Betriebsvereinbarung

Um sich für die Verhandlungen fit zu machen, analysierte der Betriebsrat genauestens die Lohn- und Gehaltslisten. Er schlüsselte die Zulagen nach Lohn- und Gehaltsgruppen auf, ermittelte die Spannen und die Durchschnittswerte. Auch ein Vergleich zwischen Arbeitern und Angestellten wurde erstellt. Aus diesen Berechnungen ermittelte der Betriebsrat auch den „Topf“, also den Dotierungsrahmen aller Zulagen.

In Beratungen mit dem Gewerkschaftsvertreter der IG Medien wurde ein Entwurf für eine Betriebsvereinbarung erstellt. Leitlinien dafür waren:

1. Möglichst alle Zulagen sollen an Tatbestände geknüpft werden, um sie auch vor Verrechnungen sicher zu machen.

2. Möglichst alle Zulagen sollen prozentual an Tariflöhne bzw. -gehälter geknüpft werden, damit sie der allgemeinen Tarifentwicklung folgen und nicht stehen bleiben.

3. Es soll Zulagen geben, die es gerade den unteren Einkommensbeziehern ermöglichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Großraum München liegen die Mieten 50 Prozent über dem Bundesdurchschnitt, die übrigen Lebenshaltungskosten 20 Prozent.

4. Das Zulagensystem soll leicht zu handhaben sein, einfach zu durchschauen und Transparenz und Gleichbehandlung schaffen. Die Verhandlungen, die bekanntlich aufgrund des Initiativrechts des Betriebsrats erzwingbar sind, wurden zuletzt unter Hinzuziehung von Verbandsvertretern geführt. In den Verhandlungen betonte die Geschäftsleitung ihre Prinzipien:

1. Die Arbeitsmarktzulage soll den größten Anteil der Zulagen ausmachen.

2. Die Zulagen dürfen nicht prozentual an die Tarifeinkommen geknüpft werden.

3. Eine Vergrößerung des „Topfes“ komme nicht in Frage.

Als die Geschäftsleitung in diesem Zusammenhang drohte, den oberen Tarifgruppen die Zulagen zu kürzen, falls der Betriebsrat auf der Zulagenanhebung bei den unteren Gruppen bestehe, legte der Betriebsrat ihr nahe, doch so zu verfahren – wohl wissend, dass gerade bei den oberen Gehaltsgruppen die hohen Zulagen tatsächlich arbeitsmarktbedingt sind, also vor Abwanderung von spezialisierten Arbeitskräften schützen sollen.

Zulagen durch Vereinbarung abgesichert Das Ergebnis der Verhandlungen, das letztlich ohne Einigungsstelle Anfang 1992 zustande kam, ist nebenstehend abgedruckt. Wie bei allen Verhandlungen dieser Art handelt es sich um einen Kompromiss. Aus Sicht des Betriebsrates sind als Erfolge besonders hervorzuheben:

 Ein Großteil der Zulagen konnte dadurch abgesichert werden, dass sie nun an konkrete Tatbestände geknüpft sind. Bei der langen Laufzeit (bis Ende 1995) können sie nicht mit Tariferhöhungen verrechnet werden.

 In der Betriebsvereinbarung ist anerkannt, dass Zulagen aufgrund der Lebenslage von Beschäftigten erforderlich sind. Die „Standortzulage“ ist ausdrücklich auf die Reproduktionsbedingungen abgestellt und begünstigt gerade die unteren Lohngruppen.

 Die „Leistungszulage“ konnte mit einheitlich zehn Prozent der jeweiligen Tarifgruppe an die Tarifentwicklung angekoppelt werden. Und was besonders wichtig ist: Ein besonderes Beurteilungsverfahren durch Vorgesetzte oder Personalabteilung findet nicht statt. Dies dürfte vor allein für Betriebe mittlerer Größenordnung interessant sein.

 Der Dotierungsrahmen konnte durch die Vereinbarung nicht wesentlich erhöht werden. Es fanden aber einzelne Erhöhungen in den unteren Tarifgruppen statt. Und was wichtig ist: alle Zulagen, die vorher monatlich als Festbeträge ausgezahlt wurden, sind nun in den Stundenlohn einbezogen. Sie sind damit ebenfalls Berechnungsgrundlage für das monatliche Entgelt unter Berücksichtigung aller Zuschläge.

 Schließlich erhalten alle Beschäftigten eine genaue Aufstellung ihrer Zulagen mit dem Hinweis, dass man sich bei Rückfragen oder Reklamationen an die Geschäftsleitung oder den Betriebsrat wenden kann. Dies ist in einem Betrieb mit hohem Anteil von ausländischen Beschäftigten besonders wichtig.

Dieses Ergebnis kam vor allem zustande, weil der Betriebsrat äußerst genau die bestehende Lohngestaltung im Betrieb analysierte und Vorschläge für eine Vereinbarung präsentierte, die nicht einfach der „normalen“ Logik der unternehmerischen Wertschätzung der Beschäftigten bei der Bezahlung folgte. Christian Franke, Betriebsratsvorsitzender , zu den Erfahrungen mit der Vereinbarung ein Jahr nach Inkrafttreten: „In der heutigen Situation, wo die Unternehmer der Papierverarbeitung landauf, landab mit Anrechnungen drohen, sind wir stolz darauf, für die meisten Kolleginnen und Kollegen die Zulagen abgesichert zu haben. Auch bei Neueinstellungen hält sich die Geschäftsleitung an die Vereinbarung und zahlt von vornherein den nunmehr vereinbarten Übertarif. Es herrscht damit weitgehend Gleichbehandlung im Betrieb.“

gw
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Betriebsvereinbarung zur Ausgestaltung der übertariflichen Zulage

Zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat der Isar Wellpappe GmbH und Co KG wird folgende Vereinbarung zur Ausgestaltung der übertariflichen Zulagen gem. § 87, I, Ziffer 10 und 11 geschlossen:

1. Geltungsbereich

Diese Vereinbarung gilt für alle Arbeitnehmer der Firma Isar Wellpappe. Sie regelt die Ausgestaltung aller übertariflichen Zulagen.

2. Zulagenarten

Mit dieser Vereinbarung werden folgende innerbetriebliche Zulagen geregelt:

a) Standortzulage: sie trägt der Tatsache Rechnung, dass der Betrieb in einer Wirtschaftsregion mit überdurchschnittlichen Lebenshaltungskosten angesiedelt ist. Sie trägt ebenfalls der Tatsache Rechnung, dass Arbeitnehmer unterer Lohn- und Gehaltsgruppen von den überdurchschnittlichen Lebenshaltungskosten am stärksten belastet sind.

b) Leistungszulage: sie wird gewährt für Arbeitsleistung, die über die tarifliche Normalleistung hinaus geht und damit zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens beiträgt. Anspruchsberechtigt sind alle gewerblichen Arbeitnehmer, für die die tarifliche Regelung zur Leistungsprämie keine Anwendung findet.

c) Arbeitsmarktzulage: sie liegt im Ermessen des Unternehmers und soll die unternehmerische Handlungs- und Dispositionsfähigkeit erhöhen und es ermöglichen, flexibel auf die Bedingungen des Arbeitsmarktes zu reagieren.

3. Zulagenhöhe:

Der Höhe nach werden die in Ziffer 2 genannten Zulagen folgendermaßen festgelegt:

a) Standortzulage: Gewerbliche Arbeitnehmer; Grundbetrag: 0,40 DM/Stunde – Steigerungsbetrag (LG I bis V): 1,10 DM/Stunde

Angestellte der Gehaltsgruppen 1 bis 4; einheitlicher Betrag: 200,- DM/Monat

b) Leistungszulage: Arbeiter, die nicht in der Produktion beschäftigt sind, erhalten eine Leistungszulage in Höhe von 10 Prozent des Stundensatzes der Lohngruppe, in der sie eingruppiert sind.

c) Arbeitsmarktzulage: Alle Zulagen mit Ausnahme der in Ziffer 4 genannten, welche die Summe der Beträge aus a) und b) übersteigen, werden als Arbeitsmarktzulage ausgewiesen. Die Zahlung weiterer Arbeitsmarktzulagen in der Zukunft ist in die freie Disposition der Unternehmensleitung gestellt.

4. Fortbestehen anderer Zulagen

Von dieser Vereinbarung bleiben folgende Zulagenarten unberührt und daher unverändert:

- Leistungsprämie nach Tarif
- Produktionsprämien
- Garantierte Mindestprämien
- Palettengeld
- Prämie unfallfreies Fahren
- Bereitschaftszulage
- Zulage für Auslandsfahrt und zweite Fahrt
- Abfallprämie (WPA)

5. Teilzeitbeschäftigte, nicht berechtigter Personenkreis

Teilzeitbeschäftigte erhalten die Zulagen nach dieser Vereinbarung mit der Maßgabe, dass der ihnen zustehende Betrag sich aus den Verhältnissen ihrer persönlichen Arbeitszeit zu der tariflichen festgelegten Normalarbeitszeit ergibt. Auszubildende und angestellte Reisende (Vertreter) sind von dieser Regelung ausgeschlossen.

6. Verfahren der Einführung dieser Zulagenregelung

Im gewerblichen Bereich werden alle Zulagen mit Ausnahme der unter Ziffer 4 genannten auf den Stundenlohn umgerechnet.

Alle Arbeitnehmer erhalten mit Inkrafttreten dieser Vereinbarung eine Mitteilung, die Aufschluss über die Zusammensetzung des Lohnes bzw. des Gehaltes gibt Diese Mitteilungen sind Bestandteil des jeweiligen Arbeitsvertrages (Muster siehe Anlage).

7. Inkrafttreten/Kündigung

Diese Vereinbarung tritt am 1. Mai 1992 in Kraft. Sie kann mit einer Frist von sechs Monaten zum Quartalsende, erstmals jedoch zum 31. Dezember 1995 gekündigt werden.


Forum. Mitgliederzeitschrift der IG Medien – Druck und Papier, Publizistik und Kunst, 20 ff.