Materialien 1992
Kurstadt oder Kulturstadt
Sich ergehen oder erfahren mit dem Radl im Englischen Garten, in unmittelbarer Nähe der berühmten Münchner Kirchtürme ungezwungen im Schöpfungskleid dem lieben Gott den Tag stehlen, Weihwürste zutzelnd die Seele im Föhn baumeln lassen und nachts in aller Gemütsruhe schlafen können, weil draußen kein beunruhigendes Nachtleben tobt, das ist die Kurstadt München, in der es sich wohl sein lässt.
Nimmt man dazu die vielen Beduinenzelte, die jeden Sommer entlang der Isar und in den Villengärten aufgeschlagen werden, damit die Mitglieder der Münchner Moet-et-Chandon-Connection ihre Kelche im Freien leeren können, wenn sie nicht unter weißen Käfer-Schirmen die Stadt untereinander aufteilen, dann ist das, von außen besehen, ein hübsches Bild, mindestens für den Betrachter, der noch ein halbwegs bezahlbares Dach über dem Kopf hat.
Abends wird dieses Kurleben durch ein reichhaltiges Angebot künstlerischer Darbietungen (Kleinkunst bis Großkunst) ergänzt. Eine Kurstadt mit einer breit gefächerten Palette von Freizeit-Kultur mit Alpenglühen im Hintergrund. Was will man mehr?
Nur Querulanten wollen dazu noch Reibung, Auseinandersetzung, Unruhe und Protest gegen unhaltbare Zustände, von denen es in München genügend Vorrat gibt.
Der eine oder andere ungebetene Gast fragt sich: Wo bleibt der Protest aus der Bevölkerung gegen ihre Peiniger, die Quadratmeterhaie, die aus einem Wohnklo noch eine Goldgrube für sich machen?
Der Münchner lässt lieber protestieren. Gegen Eintrittsgeld geht er lieber einmal im Jahr ins kritische Kabarett. Damit ist der Aufmüpfigkeit Genüge getan. Eine Art Ablassverhalten. In keiner anderen Großstadt in Deutschland gibt es so viele kritische Kabaretts und so wenig Protest auf der Straße wie in München.
Sollte da ein Zusammenhang bestehen?
Und wo in Deutschland gibt es noch »Großkopferte«, die sich ihre eigenen Kritiker bestellen, sie bezahlen und sich von ihnen telegen »derblecken« lassen – wie jedes Frühjahr auf dem Nockherberg. Das Hofnarrentum lebt nur noch in München.
Wo sich kein Protest in der Bevölkerung regt, findet kritische Kultur im luftleeren Raum statt.
München verdrängt lieber seine Probleme, macht es sich dafür aber sehr schön. Tausende von gut bezahlten, braungebrannten Rüstungsangestellten hängen abends an den einschlägigen Tresen der Stadt rum und sehen aus, als ob sie tagsüber an der Herstellung von Kinderkleidchen beteiligt waren und nicht an der Perfektionierung des Massenmordes.
Konfliktscheu, aber prosecco-freundlich ist das heutige München. In den feinen Theaterhäusern der Maximilianstraße: wenig Auseinandersetzung mit der Gegenwart und mit den Widrigkeiten des Überlebenskampfes im sozialen Eismeer zum 3. Jahrtausend.
Und wenn, dann vor allem und immer Botho Strauß – die pflegeleichte, distanzierte, schicke Theaterschreibe aus der Dramaturgie-Etage. Alles andere würde nur die Eintreibung von Tantiemen behindern, die bei der Neubearbeitung von Klassikern für die Regisseure und Dramaturgen abfallen. Da haben die »Karate-Billis« und die »Minderleister« nur einen Exoten-Bonus. Und zur Not werden die auch noch absorbiert durch den Ausruf: »Interessant, interessant« beim Pausen-Sekt. Gefragt ist die ästhetische Verpackung, die die Edel-Meile zwischen Moshammer und Hermes im Theater weiterführt.
Eine kulturelle Spitzenstellung in Deutschland hat München mit Sicherheit im »Austrieb« von unbequemen Geistern. Die Leitung der Düsseldorfer Kunsthalle konnte so hervorragend durch einen Münchner Querkopf von Format besetzt werden, das Hamburger Schauspielhaus profitiert davon (Baumbauer), und George Tabori hat schon lange München in Richtung Wien verlassen, um nur einige zu nennen.
Münchner Kabarettisten schicken ihre giftigen Pfeile meistens von außerbayerischen Sendern ab, können aber immerhin noch terrestrisch in Bayern empfangen werden. SFB, Radio Bremen, WDR, SDR übernehmen so die kulturelle Fürsorge, die der Bayerische Rundfunk dann der Trachtenmusik angedeihen lassen kann.
So ist in München alles »easy« und »paletti«. Schon die vielen Zwiebeltürme weisen darauf hin, dass hier Eckiges nicht gefragt ist. Und im Zweifelsfall sind wir immer noch in München fast so experimentierfreudig wie in Osnabrück.
Helmut Ruge
Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 185 f.