Materialien 1992

Was die Masse meint, ist nie verkehrt

Ein Ort in dieser Zeit, dessen Immunsystem gegen den unausweichlichen Zerfall von Geist und Körper keine Neutralisatoren hat, ist München

Warum München, ein Körper, in dessen Hülle statistisch gesehen 57 Prozent aller Bundesbürger gerne leben würden, wo doch dessen Geist sich von dem Geruch nährt, dessen Aroma schon längst verduftet ist? Warum liebe ich diesen verrotteten Körper? Warum liebt ein Mann die Aura einer Frau, die Ruin bedeutet und der er doch nicht entkommt? Ich lebe in diesem Klimakterium der Intrigen, Verlogenheit und Doppelmoral seit 1974. Ich habe beobachtet, wie sich der Virus ausbreitet, wie der Virenaustausch funktioniert, wie sich das Mittelmaß positioniert. Aus Angst, ihre Mittelmäßigkeit erklären zu müssen, versuchen sie mit dem Anspruch »Was die Masse meint, ist nie verkehrt«, und inhaltslosen Banalitäten, die beim ersten Hinschauen erblassen und beim zweiten gar nicht mehr vorhanden sind, das produktive Kontrastpotential dieser Stadt, welches die Masse erst sichtbar macht, weil es versucht, sich von dem alles nivellierenden Massenanspruch abzusetzen, zu neutralisieren. Die Bannerträger des Mittelmaßes, die alles Keimende mit Ignoranz bestrafen und durch Rufmord schädigen, lassen zwischen Anpassung und Vernichtung wenig Raum.

Eine Gesellschaft, die sich durch Sättigung und Dekadenz auszeichnet, kurz: Überflussgesellschaft, neigt dazu, mit ihren Ressourcen leichtfertig bis fahrlässig umzugehen. Mit zunehmender Dynamik dieses Prozesses vollzieht sich allmählich eine Trübung des Realitätsbewusstseins und Kritikvermögens, die eine Werteverschiebung nach sich zieht, die sich selbst als Maß aller Dinge begreift. Selbst definiert sich diese Gesellschaft über die Menge des Kapitals, über die sie verfügt.

Dekadenz ist eine Begleiterscheinung hierarchisch gegliederter Gesellschaften, die den Zenit ihres kulturellen Leistungspotentials überschritten haben, sich als Folge der Begleiterscheinungen auf ein breites Mittelmaß einigten und den Status quo der Mittelmäßigkeit mit feudalistischer bis diktatorischer Vehemenz verteidigen.

Nun zu München und mir: Ich lebe und arbeite seit 18 Jahren in dieser Stadt und habe ihr manches Lächeln abgerungen, für das sie sich wie Frau Hitt in der deutschen Volkssage bedankt hat: als der Bettler um einen Laib Brot bat, hat sie ihm einen Stein gereicht.

Ich bin Teil dieses Körpers. Er hat mich geprägt und doch nicht angesteckt. Ich habe gelernt, die Virusherde zu meiden, um mich nicht zu infizieren. Ich habe in diesem verrotteten Kulturkörper eine Nische gefunden, in der sich ähnlich dispositionierte Kontraproduktive ebenfalls eingerichtet haben und zu senden begannen, auch wenn diese Strahlung vom Körper nicht wahrgenommen wurde, weil er zu sehr damit beschäftigt war, von seinen Eiterbeulen mit allzu routinierten Ritualen abzulenken.

Es gibt an diesem Ort Nekrosenherde, deren Fäulnisbakterienproduktion so stark ist, dass alles lebende Gewebe ebenfalls zu nekrotisieren beginnt, wenn die Sauerstoffzufuhr nicht von außerhalb des Körpers befindlichen Energiezellen in Form von ideologischer, ökonomischer, ökologischer Stellungnahme, das Überleben an solch einem Ort ermöglicht.

In den achtzehn Jahren meiner Präsenz im Antlitz dieser Stadt hat sich in der von mir belebten Nische weder ein ortsverpflichteter Kulturreferent noch Museumsleiter noch Sammler mit dem Bedürfnis verirrt, den Fremdkörper kennenlernen zu wollen. Ist nicht ganz richtig: Es gab bei zufälligen Begegnungen auf kulturell gesellschaftsfähigem Parkett vor der entsprechenden Öffentlichkeit pathetische Lippenbekenntnisse, die den Eindruck eines progressiven Images vermittelten. Diese Attitüde des »Alles verstanden«, »Alles unter Kontrolle«, »Alles Paletti« wurde beim Anlegen der Hauspantoffeln unter seinesgleichen abgelegt, um standesgemäß der Lust des Mittelmaßes freien Lauf zu lassen. Auf schriftliche Nachfrage zum öffentlichen Bekenntnis reagieren die vom Mittelmaß erwählten Stellvertreter ihrer Klasse dispositionsgemäß mit simuliertem Gedächtnisschwund oder gar nicht. Fairneßhalber wäre anzumerken, dass es auch in dieses Klima Verirrte gibt, die nach Läuterungsprozessen das Klimakterium verließen oder sich für die innere Emigration entschieden.

Noch eins hätte ich fast vergessen: Der Unterschied zu Aids-Infizierten ist: München kannst Du neutralisieren, indem Du es verlässt, sofern die Berührung mit dem etablierten, speicheltriefenden Mittelmaß nicht schon zur Infektion geführt hat.

Wolfgang Flatz


Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 106 f.