Materialien 1992
Michael Hartmann
Einleitung
Nachdem ich die Berichte einer Gruppe aus Kiel erhalten und gelesen habe, bin ich mir sicher: die sanfte Revolution gegen das Auto oder für mehr lebens- und Wohnumlandqualität hat begonnen. Diese Gruppe hat sich angeregt durch meinen Film Der Autofeind zusammengeschlossen und zumindest drei von vier Methoden gegen die Autos ausprobiert und schließlich schon des öfteren angewandt.
Diese Methoden sind folgende:
Die Autos, welche auf dem Bürgerinnensteig parken, wieder zurück auf die Straße tragen. Die einzige Methode, bei der mehr als eine Person beteiligt sein muss.
Über die Autos, welche auf dem Bürgerinnensteig parken, einfach hinweggehen, das heißt also: rauf auf den Kofferraum, auf’s Dach, auf die Motorhaube und wieder nach unten. Dies, um den Bürgerinnen bildlich zu zeigen: „Der Mensch steht über dem Auto.“ Und den Bürgerinnensteig wieder frei zu bekommen von den alles verzehrenden Automobilen.
Über Kreuzungen in der Diagonalen und vor Ampeln konsequent bei Rot gehen, um das Vorgangsrecht für Fußgängerinnen einzufordern. Tempo 30 an Kreuzungen, also im gesamten Stadtgebiet (Tempo 30 heißt: m.a.n. [Mensch, Frau, Mann] darf allerhöchstens und nur in Ausnahmefällen 30 km/h fahren – laut StVO). Als letztes dann zu Fuß (und auch mit dem Fahrrad) in der Mitte einer Fahrspur auf der Straße gehen (und fahren), um den Autofahrerinnen zu zeigen: „Der Mensch geht dem Auto vor“.
Die Kieler Gruppe hat das Kreuzungen in der Diagonale gehen, obwohl es die effektivste Methode (neben dem Straßengehen) ist, leider noch nicht in ihr Programm aufgenommen. Jedoch war sie die erste Gruppe, welche diese von mir genannten Methoden umgesetzt und dabei erkannt hat, was für legale Möglichkeiten jeder einzelne von uns hat, sich gegen den Autoverkehr zu wehren.
Die FußgängerInnen und RadlerInnen werden sich wieder das zurückerobern, was ihnen vor Jahrzehnten genommen wurde: ein Stück Lebens(t)raum in der Mitte von vor Jahrzehnten (und gestern) gepflanzten Baumalleen (falls noch vorhanden)! Sie werden wieder ein wenig mehr Freiraum auf den Straßen und Plätzen schaffen, um dort Orte der Gemeinsamkeiten entstehen zu lassen.
Michael Hartmann, März 1998
Das Urteil des Landgerichts München 1 vom 21. Oktober 1994
I.
Der Angeklagte Hartmann Michael, geb. am 16. Mai 1966 in München, lediger Student, deutscher Staatsangehöriger, wohnhaft Hohenzollernstraße 56, 80801 München, Eltern: Richard und Edda Hartmann, letzt. geb. Stippekohl, wird wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Im übrigen wird der Angeklagte freigesprochen.
Gründe: … Am 24. Oktober 1992 traf sich der Angeklagte gegen 12.00 Uhr mit den anderweitig Verfolgten Dittmann und Gmahl, um auf der Fahrbahn der Leopoldstraße in München in Richtung Odeonsplatz zu gehen …
Am 14. November 1992 gegen 12.00 Uhr traf sich der Angeklagte mit Dittmann und Lehner, um auf dem rechten Fahrstreifen der Leopoldstraße in Richtung Münchner Freiheit zu Fuß zu gehen. Es entstand ein erheblicher Verkehrsstau …
Am 9. Januar 1993, gegen 12.10 Uhr ging der Angeklagte mit mehreren gleichgesinnten Personen in München auf dem rechten Fahrstreifen der Leopoldstraße in Richtung Münchner Freiheit und zurück stadteinwärts. Sie führten ein Plakat gegen die Verkehrspolitik mit sich und verteilten Handzettel. Es kam zu Verkehrsbehinderungen, bis die Polizei nach etwa 45 Minuten eingriff.
… Der Fahrer des Unfallwagens, Manfred Schiegl meinte, er habe den Angeklagten zu spät gesehen und seine Geschwindigkeit von 50 km/h sei bei den herrschenden Witterungs- und Straßenverhältnissen möglicherweise zu hoch gewesen …
IV.
I) Der Angeklagte hat sich eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in zwei Fällen (Ziffer II I. und 2-1 gemäß §§ 315 b Abs. 1 Nr. 2. 53 StGB) schuldig gemacht.
… Eine konkrete Gefährdung anderer am 2. Januar 1993 und 14. Januar 1993 ist gegeben.
… Beim Unfall vom 14. Januar1993 ist zugunsten des Angeklagten nicht auszuschließen, dass der Zeuge Schiegl bei vorsichtigerer Fahrweise den Angeklagten auf der Gegenfahrbahn ohne längere Wartezeit hätte überholen können, so wie es vor ihm bereits mehrere Fahrzeuge gemacht hatten.
… Trotz Vorhalte von verschiedenen Seiten, trotz seiner zweimaligen Einweisung in ein Bezirkskrankenhaus, trotz einer zwölftägigen Haft und der bevorstehenden Hauptverhandlung ließ er sich hiervon (dem Straßengehen, Anm. d. Verf.) nicht abbringen.
Soweit der Angeklagte verurteilt wurde, hat er selbst die Kosten des Verfahrens zu tragen. Im Umfange des Freispruchs fallen die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last.
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Das Urteil des Bundesgerichtshofes 1995, im Namen des Volkes:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 21. Oktober 1994 aufgehoben.
2. Der Angeklagte wird freigesprochen.
3. Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
4. Der Angeklagte ist für die vom 14. Januar 1993 bis zum 26. Januar 1993 erlittene Freiheitsentziehung zu entschädigen.
Gründe: … Der Angeklagte betreibt seit 1988 Aktionen gegen den Autoverkehr in München. Sein erklärtes Ziel ist es, eine autofreie Stadt zu erreichen. Er begann damit, dass er über Personenkraftwagen hinwegging, die auf Gehwegen geparkt waren. Dies führte (…) zu seiner Verurteilung wegen Sachbeschädigung. „Da dem Angeklagten von Polizei und Gericht immer wieder vorgehalten wurde, er dürfe nicht über, sondern nur um die Autos gehen, kam er bei seinen Überlegungen zu dem Ergebnis, dass dann die Autos um ihn herumfahren müssten. Da Autos auf dem Bürgersteig nicht wegen Nötigung belangt würden, könnten folgerichtig auch nicht Fußgänger, die sich auf der Straße bewegten, zur Rechenschaft gezogen werden. Der Angeklagte entschloss sich deshalb dazu, ab Mai 1992 bis etwa Oktober 1993 als Fußgänger gelegentlich (eigentlich: fast immer, mit 4 Monaten Unterbrechung, Anm. d. Verf.) auf Straßen im Stadtbereich von München zu gehen, wobei er insgesamt nach eigener Schätzung ca. 450 Kilometer (plus 350 km, Anm. d. Verf.) zurücklegte. Es ging ihm darum, dass die Autofahrer langsamer und defensiver fahren und mehr Rücksicht auf Fußgänger nehmen sollten.
… Bei dem Vorfall vom 14. Januar 1993 konnte das Landgericht auch nicht ausschließen, dass der Unfallbeteiligte Schiegl sich selbst verkehrswidrig verhalten hat und „bei vorsichtigerer Fahrweise den Angeklagten auf der Gegenfahrbahn ohne längere Wartezeit hätte überholen können, so wie es vor ihm bereits mehrere Fahrzeuge gemacht hatten“.
… Selbst wenn aber eine tatbestandsmäßige erhebliche Behinderung deshalb zu bejahen wäre, weil den Pkw-Fahrern Schritter und Schiegl in der jeweiligen konkreten Situation verkehrsbedingt ein Ausweichen unmöglich war, fehlte es beim Angeklagten jedenfalls am subjektiven Tatbestand.
… Für eine Absicht des Angeklagten, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu beeinträchtigen, geben die Urteilsfeststellungen jedoch keinen Anhalt. Die Überlegungen des Angeklagten zielten letztlich nur darauf ab, die Autos zu veranlassen, „um ihn herumzufahren“.
… Der Angeklagte hat sich auch nicht nach anderen Vorschriften strafbar gemacht; insbesondere kommt – wie die Strafkammer im Ergebnis zu Recht angenommen hat – eine Verurteilung des Angeklagten wegen Nötigung (§ 240 StGB) nicht in Betracht.
… Dass der Angeklagte auf der Straße ging (Anm. d. Verf.: das war das einzige in diesem Text hervorgehobene Wort: es wurde unterstrichen!) und nicht auf der Straße saß, stellt keinen rechtserheblichen Unterschied dar; im Gegenteil ist letztlich die Einwirkung desjenigen, der sich als Fußgänger fahrtrichtungsgemäß, d. h. vor den Fahrzeugen her, fortbewegt, eher geringer.
… Der Senat schließt aus, dass sich aufgrund neuer Verhandlung noch weitere Feststellungen treffen lassen, die ein strafbares Verhalten des Angeklagten belegen könnten. Der Senat spricht den Angeklagten daher frei.
… Der Angeklagte ist für die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung (vorläufige Festnahme am 14. Januar 1993, Untersuchungshaft vom 15. bis 26. Januar 1993) zu entschädigen …
Institut für Kunst und Forschung (Hg.), Unmögliche Kunst. Eine im Auftrag der Grünen Landtagsfraktion gestaltete Ausstellung vom 24. Januar bis 16. Februar 2001 im Bayerischen Landtag über das, was man sich heutzutage im Freistaat von Künstlern alles gefallen lassen muss, mit einem Geleitwort von Sepp Dürr und Texten von Jürgen Arnold und Gerd Holzheimer, München 2000, 36 ff.