Materialien 1992
Corso Leopold
Freiheit für die Leopoldstraße
Schwabing Extra geht auf die Straße. Mit einer Idee aus alter Zeit soll Schwabing ein Stück lebenswerter gemacht werden. Die Idee heißt „CORSO LEOPOLD“. Der Vorschlag: Von Samstagnachmittag (eine Stunde nach Ladenschluss) bis Sonntagnacht soll die Leopoldstraße von Mai bis Oktober für den Autoverkehr gesperrt werden. 33 Stunden soll die Straße nur Fußgängern und Radlfahrern gehören, Spaziergängern und Straßencafehockern, Federballspielern und Gauklern, Liebespaaren und Familien, Kinderwagen und Rollschuhfahrern. Kein wöchentliches Volksfest, sondern friedliches Treiben am Wochenende. Keine Hektik, keine Biertische, sondern Flanieren. Spielen und Reden – der alte Geist von Schwabing. Ein Corso eben: vergnügliches Leben auf der Straße. Ohne Motoren, ohne Lärm. Spaß mal ohne Abgas.
Mehrmals in den letzten Jahren ist Schwabings Prachtstraße ganz ungeplant zu einem Fußgängercorso geworden. Die Anlässe waren durchweg erfreulich: Vor vier Jahren wurde Deutschland Weltmeister und eine ganze Nacht lang feierten die Menschen friedlich zwischen Münchner Freiheit und Siegestor. Vor eineinhalb Jahren nahmen bei der Münchner Lichterkette Hunderttausende von friedlichen Demonstranten die Straße in Besitz. Und in den letzten Wochen haben die Italiener auf der Leopoldstraße ihre Fußballbegeisterung ausgetobt. Die Polizei reagierte schnell, gelassen und freundlich. Der Autoverkehr wurde umgeleitet, die Straße gehörte den Feiernden. Trotz des vielen Jubels ein wunderbares Gefühl des Friedens. Geselligkeit und Kommunikation auf einem Raum, der sonst zum größten Teil von Autos verstopft ist. Ereignisse, die Lust auf Wiederholung machten.
Ach, Venedig
Müssen wir nun warten, bis Deutschland wieder einmal Weltmeister wird? Oder bis andere, fröhlichere Landsleute mit einem gewissen Bevölkerungsanteil in München schon beim Viertel- oder Halbfinale auf der Straße tanzen wollen. Sollen nur Erfolge im Fußball Fußgängern das Recht geben, die Straße zu Fuß in Besitz zu nehmen? Gibt es nicht noch andere, weniger spektakuläre Gründe dafür? Vielleicht einfach den Spaß, ein anderes Modell von städtischem Leben ab und zu mal auszuprobieren? Ein uraltes Modell im übrigen, denn bis vor hundert Jahren gehörten die städtischen Straßen ganz selbstverständlich den Fußgängern. Und keineswegs nur zum Feiern, sondern zu allen möglichen Ergötzlichkeiten …
Klar, Verkehr muss sein, Autos werden wir so schnell nicht los, und die Idylle der alten Fußgängerstädte ist unrettbar verloren. Ach, Venedig. Aber muss Autoverkehr wirklich immer und andauernd sein? Müssen wir (Autofahrer und Fußgänger, die wir ja fast alle in Personalunion sind) uns sieben Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr lang dem Diktat der (unserer!) Verbrennungsmotoren unterwerfen? Ihrem Lärm, ihrem Gestank, ihren Geschwindigkeiten, ihren Ozonwerten, ihrer Verdrängungsmasse? Es sind unsere Autos, die uns den Platz zum Spazieren und Flanieren wegnehmen. Wir stehen nicht im Stau, wir sind der Stau. Selbst beim Parken.
Mit dem Vorschlag „Corso Leopold“ will Schwabing Extra die schöne klassische Funktion der Straße wenigstens am Wochenende – also dann, wenn es den Berufsverkehr wenig stört und die Leute Zeit dafür haben – wieder beleben: Die Straße als Ort der Kommunikation und Geselligkeit. Der Vorschlag hat Vorbilder. In Südeuropa und Südamerika gibt es eine Reihe von erfolgreichen Beispielen von autofreier Hauptstraßen zu bestimmten Zeiten. Die Schlitten müssen draußen bleiben, die Menschen atmen durch. Wer sollte dagegen etwas haben? Die Kaufhäuser sind nicht bedroht. Die Cafes können mehr Tische aufstellen. Die Autos haben zwei Tage frei. Alle haben ihre Ruhe und rasten aus statt auszurasten.
Wege zum Corso
Natürlich wissen wir, dass das alles nicht so einfach ist. Doch sind Verkehrsplaner nur für Autos da? Wäre es nicht eine edle Aufgabe für den Stadtrat und seine Experten, auch mal den Fußgängern ein Stück Freiheit zu verschaffen? Nachdem man sie jahrelang auf enge Bürgersteige gepfercht, über gefährliche Ampelübergänge getrieben, in Unterführungen und Tiefgeschosse versenkt und ihnen zum Wohle des Autos die Luft zum Atmen genommen hat, wäre es da nicht an der Zeit, einen Versuch zu starten, die Sache einmal anders herum anzugehen? Warum nicht – örtlich wie zeitlich beschränkt – die Autos mal um die Fußgänger herumführen? Mit einem guten Plan, wie die Leopoldstraße weiträumig zu umfahren ist, mit einem vernünftigen Angebot an Parkmöglichkeiten für die Besucher von draußen (das neue Fröttmaninger Parkhaus kommt da wie gerufen) und mit bequemen, schnellen und billigen Bus- und U-Bahnverbindungen in die Stadt.
„Corso Leopold“ wirbt dafür, dass die Freuden des Spazierengehens auf städtischen Straßen wiederentdeckt werden. In jedem Auto steckt ein Fußgänger! Und der wird sich freuen wie ein Kind, wenn er den Corso entlangspaziert. „Corso Leopold“ will kein halbjähriges Oktoberfest auf der Leopoldstraße ins Leben rufen, sondern eine fröhliche Alternative zum Wochenend-Blechkorso in und um die Stadt. Wir setzen auf einen Erfolg, der zum Nachmachen einlädt. Jedem Stadtteil sein Corso, jeder Stadt ihr Corso! Die Idee – in Schwabing geboren und ausprobiert – könnte, wenn sie gut umgesetzt und angenommen wird, ein Modell für eine andere Stadtkultur werden: Am Wochenende gehört die Straße den Corsaren.
tp
Schwabing extra. Zeitung der Schwabinger Friedensinitiative 7/1994,1.