Materialien 1992
Wie die Freikorps
Polizei
Nach dem offenkundig rechtswidrigen Münchner Polizeikessel
müssen die Verantwortlichen mit Prozessen rechnen.
Ein wunderbares Klischee vom Freistaat Bayern und seinen Menschen ging am Montag voriger Woche per Fernsehen um die Welt.
Auf dem Max-Joseph-Platz zu München, im Karree vor der Oper, waren kernige Mannsbilder in Leder und Loden, dralle Dirndl mit bunten Blumen im Mieder und putzige kleine Buben unter riesigen Gamsbarthüten angetreten. 780 echte Trachtler und Gebirgsschützen samt Fahnen, Kuhglocken und Blasmusik bildeten beim Empfangszeremoniell für die Staatsgäste des Wirtschaftsgipfels, so die staatliche Propaganda, einen „Rahmen der Freude“.
Was sich derweil, während US-Präsident George Bush entzückt die kleinen Gamsbärtigen grüßte, schräg gegenüber anbahnte, blieb den Live-Fernsehern global erspart. Es hätte auch keinem Freude gemacht: Dort entwickelte sich aus lächerlichen Trillerpfeifprotesten von ein paar hundert Gegnern des Gipfeltreffens im Nu der heftigste und fragwürdigste Schlag, den Bayerns Polizei seit den Schlachten um die früher geplante Atomfabrik bei Wackersdorf gegen vermeintlich gefährliche Demonstranten führte.
Der Einsatz gleiche, so beschrieben ihn Landtagsabgeordnete, die Augenzeugen waren, einer „paramilitärischen Notstandsübung“ und erinnere an das „brutale Agieren der Freikorps“ in Bayern nach dem Ersten Weltkrieg. Fast 500 Protestierer wurden mit Stockschlägen und Fausthieben offenkundig rechtswidrig eingekesselt und wegen des Verdachts der versuchten Nötigung festgenommen …
An Härte, Willkür und Kaltschnäuzigkeit scheint das Münchner Kesseltreiben alles Frühere zu übertreffen. Die SPD-Parlamentarierin Dorle Baumann, die selber einen Stiefeltritt in den Unterleib abbekam, als sie einem in Handschellen weggezerrten Jugendlichen zu Hilfe kommen wollte, berichtet: „Scharfschützen hinter dem Rathaus bei einer friedlichen Demonstration, Festnahmen mit Foltermethoden — ja wo leben wir denn, im beginnenden Bürgerkrieg oder in der Bananenrepublik?“
Eher auf letzteres ließen die Kraftsprüche schließen, mit denen Bayerns christsozialer Ministerpräsident Max Streibl, 60, noch am gleichen Abend im Hofbräuhaus Bilanz zog. „Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern anlegen“, so klotzte Streibl, „der muss wissen, dass wir dann auch etwas härter hinlangen. Auch das ist bayerische Art.“
Zum Vorschein kam dabei, so Bayerns SPD-Vorsitzende Renate Schmidt, schiere „CSU-Schlagstockmentalität“. Eine „Variante chilenischen Humors“ bescheinigte Thomas Huber, Landesvorsitzender der Jungsozialisten, dem Ministerpräsidenten. Doch Haudrauf Streibl nahm keine Silbe zurück, legte vielmehr später noch nach. „Ist einer verletzt worden?“ spielte er scheinheilig die Knüppelei herunter. „Gibt es einen Toten?“
Die legendäre, nach den Schwabinger Studentenkrawallen von 1962 entwickelte liberale „Münchner Linie“ — psychologisches Einwirken vor Demo-Zugriffen — „passt heute nicht mehr“, so der frühere Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber, „ins Konzept der bayerischen Regierung“.
Dagegen passen jetzt die sogenannten Unterstützungskommandos (USK), die der damalige Innenstaatssekretär und heutige Umweltminister Peter Gauweiler nach den Erfahrungen von Wackersdorf aufstellen ließ. Sie sollten nach der ursprünglichen Absicht durch gezieltes Abgreifen nur verhindern, dass gewaltbereite Demonstranten aus dem Schutz einer Menschenmenge heraus Straftaten verüben.
Für den Gipfel-Einsatz in München wurden die Greiftrupps jedoch offenkundig, etwa mit Videos von den Wackersdorfer Keilereien, auf Übergriffe nach bayerischer Art getrimmt — „als Prügelgarde gegen politischen Widerstand und Protest“, so die Gipfel-Gegner.
Bewährt hatten sich die Greifer bereits im Vorfeld, als in Nürnberg und in München-Haidhausen Vorbereitungstreffen der Gipfel-Gegner auseinandergeknüppelt wurden, jeweils mit der Unterstellung, die Treffen dienten der Absprache von Gesetzesbrüchen.
Für den Gipfel schließlich, laut offizieller Propaganda die „größte Bewährungsprobe für die deutschen Sicherheitskräfte“ seit den Olympischen Spielen von 1972, galt die Devise des bayerischen Innenministers Edmund Stoiber, 50: Es dürfe „keinerlei Risiko“ hingenommen, bei jedwedem Rechtsverstoß müsse „sofort und konsequent“ eingeschritten werden. Münchens Polizeipräsident Roland Koller, strammer CSU-Mann, war auf Festnahmen eingestellt: „Die Aufnahmekapazitäten unserer Haftanstalten“, hatte er avisiert, „sind ausgelotet.“
Hinter allen Sicherheitsvorkehrungen stand offenkundig auch die panische Befürchtung, schon das geringste Demo-Debakel könnte dem Münchner Weltereignis einen Makel verpassen.
Diese Gefahr bestand haargenau in dem Moment, als auf dem Max-Joseph-Platz die Gipfelgrößen zum ersten und einzigen Mal unter freiem Himmel live gesehen und gefilmt werden konnten. In diesem Augenblick schien den Strategen konsequentes Hinlangen geboten — weil das Pfeifkonzert und die Buhrufe, wie Polizeichef Koller es darstellte, zu einem „ohrenbetäubenden Lärm“ eskalierten, geeignet, „die Veranstaltung von Bundeskanzler Helmut Kohl zu kippen“.
Koller, Stoiber und Streibl mussten sich jedoch belehren lassen. Sie wollten fünf der Störer wegen angeblich versuchter Nötigung mit einer bayerischen Spezialität, dem Unterbindungsgewahrsam, für mehrere Tage aus dem Verkehr ziehen lassen. Doch der Münchner Amtsrichter Karl Puszkajler, 44, entließ die Festgenommenen und beschied: Lärm sei keine Gewalt im Sinne der Nötigung, „Kritik in der Öffentlichkeit gehört zum Grundbestand der Meinungsäußerung in einer Demokratie“.
Bei den Protestierern waren weder Waffen noch Wurfgegenstände gefunden worden. Puszkajler: „Worin die Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel zu sehen ist, ist nicht nachvollziehbar.“
Darauf, dass die Einkesselung der also gewaltlosen Demonstranten eklatant gegen die gebotene Verhältnismäßigkeit der Mittel verstieß, brauchte der Richter nicht einzugehen. Es war jedoch der gröbste Akt, der sich da nach bayerischem Landrecht vollzog.
Das Vorbild, der berüchtigte Hamburger Kessel vom Juni 1986 gegen demonstrierende Kernkraftgegner, hatte böse Folgen — für Polizeileiter, die zu Geldbußen verurteilt wurden, und für die Stadt Hamburg, die Kesselopfern Schmerzensgeld zahlen musste.
Die Demonstrantenhatz hinter dem Münchner Rathaus wird diese Woche in einer Sondersitzung des Landtags behandelt werden. Gegen die Verantwortlichen, Polizeipräsident, Innenminister und Ministerpräsident, liegen Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt vor.
Immerhin waren Versuche der Eingekesselten, mit der Polizeiführung über eine friedliche Auflösung der Demo zu verhandeln, mehrfach abgelehnt worden. Als ein Emissär, Mitarbeiter der Münchner Bürgermeisterin Sabine Csampai (Grüne), nachhaken wollte, kam es schroff: „Hau ab, sonst kriegst du eins in die Fresse.“
Der Spiegel 29 vom 13. Juli 1992, 27.