Materialien 1992

Viele haben stark geblutet

Augenzeugen über den Polizeieinsatz beim Münchner Weltwirtschaftsgipfel

Niels Münch, 19, Abiturient aus Göttingen

Ich bin festgenommen worden, ohne daß ich irgendwelche Gewalt angewendet hätte. Dabei hat mich ein Zivilbeamter in den Magen geschlagen. Er wollte damit auch weitermachen, wurde aber von seinen Kollegen zurückgehalten.

Im Präsidium wurde ich mit 70 anderen Leuten in eine etwa 40 bis 45 Quadratmeter große Zelle gesteckt. Da liefen die Heizungen, die kleinen Fenster unter der Decke konnte man nur kippen.

Irmela Wiemann, 49, Psychologin aus Frankfurt

Drei Freunde und ich waren die letzten Protestierer, die noch auf dem Max-Joseph-Platz bleiben durften, als die anderen Demonstranten schon abgedrängt wurden – wahrscheinlich, weil wir halt ein bißchen älter und seriöser aussehen. Helmut Kohl grinste freundlich zu uns herüber und tat so, als könne er unsere Rufe nicht hören.

Wir wurden schließlich auch weggedrängt und landeten im Kessel. Irgendwo im Getümmel hat mir ein Beamter von hinten den Schlagstock in den Po gestoßen, den pfirsichgroßen blauen Fleck konnte man noch Tage später sehen.

Peter Bierl, 29, Politologe aus Gilching bei München

Als die Polizei uns aus dem Kessel rausholen wollte, haben wir uns untergehakt, wurden dann aber einzeln rausgerissen und im Polizeigriff abgeführt. Im Präsidium landete ich in einer Gemeinschaftszelle mit 20 anderen. Da habe ich gemerkt, daß ich offenbar ziemlich viel Glück hatte: Viele der anderen hatten Schläge abgekriegt, vor allem in den Bauch. Sie sagten, das seien vor allem Berliner Einsatzkräfte gewesen.

Schlimm war dann, wie wir aus unserer Zelle die Ankunft von immer neuen Festgenommenen mit ansehen mußten: Da haben viele Leute stark geblutet und konnten sich kaum noch aufrecht halten.

Dirk Hirschel, 21, Schreinerlehrling aus Nürnberg

Am Rande einer Demo kam eine Gruppe von Beamten der Unterstützungskommandos, der USK, an mir vorbeigerannt. Dabei geriet einer ins Straucheln. Er behauptete dann, ich hätte ihm ein Bein gestellt. Mit vier Kollegen stieß er mich auf die Seite, drückte mich an die Wand und zog mich an den Haaren. Dann wurde ich zum Polizeiwagen gebracht. Dagegen habe ich keinerlei Widerstand geleistet. Trotzdem schlug mich dort der vorher gestrauchelte Beamte zweimal mit der offenen Hand ins Gesicht und drohte mir: „Wenn einem meiner Kollegen irgendwas passiert, wirst du dafür büßen. Dann fällt eine Hundertschaft über dich her.“

Siegfried Beer, 34, Fraktionsassistent der Grünen im Münchner Rathaus

Im Kessel stand ich in der ersten Reihe, da konnten die USKler die Leute am besten erwischen. Ich sagte überhaupt keinen Muckser, aber mich erkannten sie anscheinend. Jedenfalls rammte mir mein Gegenüber plötzlich seine Faust in die Brust. Mir blieb die Luft weg, ich ging zu Boden und verlor für einen Moment die Besinnung.

Franziska Bachmann, 17, Gymnasiastin aus München

Als wir im Polizeigriff abgeführt wurden, standen viele ältere Leute dabei und beschimpften uns. „Ins Arbeitslager mit euch allen“, schrie ein Mann. Da war ich fast am Heulen.

Wir wurden zu viert auf anderthalb Quadratmetern in einen Polizeibus gepfercht, der vor dem Präsidium in der Sonne stand. Es war so heiß, daß das Wasser von den Wänden des Busses runtertropfte.

In der Zelle war ich dann mit etwa 80 anderen Frauen. Erst nach Stunden kam eine Frau vom Jugendamt und wollte wissen, ob sie meine Eltern anrufen soll. Mein Vater hat später versucht, mich rauszuholen, konnte aber keinen Verantwortlichen finden. Die Polizisten wußten ja selbst nicht, was sie mit uns anfangen sollten. Erst um 21 Uhr haben sie uns gehen lassen.

Christian Ude, 44, Münchner Bürgermeister (SPD)

Ich saß im Amtszimmer, als ich vom Kessel erfuhr. Ich erinnerte mich an das Urteil des Verfassungsgerichts zum berüchtigten Hamburger Kessel und sagte noch: „Das kann nicht sein.“ Doch es gab keinen Zweifel: Was da vom Rathausfenster aus zu sehen war, konnte nur als Kessel bezeichnet werden.

Zunächst verfolgte ich das Geschehen vom Fenster des Rathauses aus. Einzelne Ausbruchsversuche wurden mit Schlagstock beantwortet, zivile Beamte gingen mit besonderer Brutalität vor, nahmen Demonstranten in den Schwitzkasten und traten sie mit den Füßen.

Ich ging dann hinunter, um mir vor Ort ein Bild zu machen. Immer wieder kamen Greiftrupps, um einzelne Demonstranten festzunehmen. Dabei gingen viele Beamte korrekt vor, andere aber schlugen sofort zu, zogen Mädchen an den Haaren, nahmen schmächtige Jungen an beiden Armen in den Polizeigriff und drückten sie demütigend tief hinunter, warfen bereits Festgenommene mit dem Gesicht auf den Boden und knieten sich auf deren Rücken.

Memo Arekan, 24, Öffentlichkeitsarbeiter beim linksextremen „Kurdistan-Komitee“

Beim Auflösen des Kessels wurde mir ständig auf die Schultern geschlagen, ein USKler packte mich an der Nase und verdrehte mir den Kopf. Dann wurde ich über den Marienplatz abgeführt. „Schiebt den ab, raus mit den Ausländern“, riefen die Passanten. Von den Polizisten kamen ähnlich faschistoide Bemerkungen, dafür haben sich andere Beamte dann aber auch fast bei mir entschuldigt.

Stundenlang habe ich immer wieder höflich nach dem Namen des Einsatzleiters gefragt oder nach einer Dienstnummer. Ich wurde nur ausgelacht. Du bist denen ja total ausgeliefert.

Günther Orth, 29, Übersetzer aus Erlangen

Nach der Festnahme mußten wir ja stundenlang immer nur warten, warten, warten. Erst in der Gluthitze im Gefangenenbus, dann vor dem Präsidium. Später wurde ich mit 40 anderen in den dritten Stock gebracht. Dort wurden wir zu zweit mit Handschellen aneinandergefesselt. Ans Fenster gehen, an die Wand anlehnen, eine Zigarette rauchen – alles verboten.

Gegen 22 Uhr sollten wir entlassen werden, aber die Beamten hatten die Schlüssel für unsere Handschellen verlegt. Also mußte erst ein Bolzenschneider geholt werden, um die Kette zwischen uns beiden durchzuschneiden. Den Stahlring um mein Handgelenk hat dann erst zu Hause ein Freund vorsichtig mit einer Eisensäge durchtrennt.


Der Spiegel 29 vom 13. Juli 1992, 28 f.