Materialien 1992

„Das ganze Spiel hat System“

Zwei Jugendliche berichten aus dem Münchner Kessel

Im Januar waren ihre Finanzminister in Washington zusammengekommen und hatten beschlos-
sen, dass die Forderungen der deutschen Gewerkschaften für die kommende Lohnrunde „überzo-
gen“ sind und nicht in ihre „Strategie für das Weltwirtschaftswachstum hineinpassen“. Als sich jetzt in München die Chefs der „großen Sieben“ selbst trafen, stellten sie fest, was ihnen sonst noch alles nicht passt. Gesetzliche Regelungen über Beschränkung der Arbeitszeit, Verbot von Kinder-
arbeit, Mindesturlaub, Lohnfortzahlung, Mutterschutz, Kranken- und Rentenversicherung, Um-
weltschutz etc. etc. Deregulierung und Privatisierung, so vereinbarten sie daher in ihrer Gipfel-Abschlusserklärung, seien vorrangig zur Steigerung der „Wachstumskräfte“ und die „notwendi-
gen Voraussetzungen für alle zugesagten Hilfen an die Länder der Zweiten und Dritten Welt“.

Wie das aussieht, machten sie am konkreten Beispiel klar. Kredite, pardon: „Hilfe“ in Höhe von 24 Milliarden Dollar sollen die GUS-Länder im laufenden Jahr erhalten. Natürlich nicht ohne Gegenleistungen. Bedingung ist, dass die Politik gemacht wird, die der Internationale Wäh-
rungsfonds und die Weltbank für notwendig halten, um die „erforderlichen Stabilisierungsbedin-
gungen“ zu gewährleisten. „Der Fonds hat mit Moskau vereinbart, das Haushaltsdefizit … und die Inflation … zu senken. Zur Umsetzung gehört der Beschluss der russischen Regierung, im Renten-, Gesundheits- und Bildungswesen nur noch eine Minimalversorgung zu garantieren und die staatlichen Systeme durch private Angebote zu ergänzen. Dadurch sollen in den kommenden drei Jahren die Sozialausgaben radikal reduziert werden …“ (Frankfurter Rundschau, 13. Juli 1992) „Wir sind uns bewusst, dass der Übergang mit schmerzlichen Anpassungen verbunden ist“, erklärten die hohen Herrn dazu zynisch bei Hummercremesuppe und Buttercremetorte.

Weniger schmerzlich ist die Anpassung z.B. für Siemens. Von den 24 Milliarden Hilfsdollars sind 1,2 Milliarden dafür da, Siemens und deren amerikanischer Konkurrenzfirma Westinghouse den Einstieg in die Atombranche der GUS (Aufrüstung der KKWs) zu versüßen.

Dass jemand, der Kritik an solchem Geschehen äußert, ein gemeingefährlicher Verbrecher sein muss, leuchtet ein.

Polizeisprecher Richard Scherer begründete den Tatvorwurf der „versuchten Nötigung“ mit dem Versuch, „dem Bundeskanzler seine (!) Darstellung, seine (!) Veranstaltung zu stören“ (Süddeut-
sche Zeitung, 7. Juli 1992). Kohl wollte sich also darstellen, der WWG war also die Veranstaltung des Kanzlers von Großdeutschland. Dabei wünschte er einen „Staatsempfang mit Bürgerbeteili-
gung“ — schließlich sind wir ja demokratisch. Doch nicht jeder Bürger ist Bürger, wer Bürger ist, bestimmt die Staatsmacht — Bürger ist Jubelbürger.

Von der Absperrung …

Deshalb gehen wir am Montag, den 6. Juli 1992, nicht ganz unvorbereitet los. Schließlich musst du schon einiges auf dich nehmen, um heute als Bürger in diesem Staat durchzugehen. Etwas festlich gekleidet und die Trillerpfeifen im BH und unter dem Hosengürtel versteckt, kommen wir um ca. 10.00 Uhr an eine Absperrung vor der Residenz — Personenkontrollen. Alternativer gekleidete Menschen werden besonders intensiv gefilzt — auch durch Abtasten. Endlich drinnen, die Triller-pfeifen vor dem staatlichen Zugriff gerettet, schließen wir uns etwa zweihundert GipfelgegnerInnen an. Vereinzelt wird bereits „Buh“ gerufen und sind Parolen zu hören. Doch plötzlich tut sich etwas auf dem Platz — die Ankunft Streibls. Die versteckten Trillerpfeifen werden hervorgeholt, wir schreien Parolen wie „Für die Macht der Reichen geh’n sie über Leichen“, „Hoch die Internationale Solidarität“ und „WWG — Internationale Völkermordzentrale“. Innerhalb weniger Minuten haben sich um uns herum USK, BGS und Polizei formiert. Sie drängen sich gewaltsam in die Menge, um einzelnen Leuten die Pfeifen abzunehmen. Dann beginnen sie ganze Gruppen brutal abzudrängen. Ich (Miriam) stolpere über die Stufen unter mir, nur die Enge verhindert den Sturz. Diese Enge wird von einigen Polizisten ausgenutzt. Spätere Zellengenossinnen berichten von massiven sexuel-len Belästigungen. Die Gruppen, die abgetrennt werden konnten, werden vor die Absperrung ge-stoßen. Bereits hier kommt es zu den ersten gewaltsamen Festnahmen. Die verbliebenen ca. fünf-zig Personen werden schließlich einzeln herausgezogen und durch ein Spalier der ausführenden Staatsgewalt gezerrt. Sie zerren dich da heraus, wo sie dich als erstes packen. Hast du Glück, an der Kleidung, hast du Pech, eben an den Haaren. Ein Bekannter von uns bekommt hierbei starke Schläge in den Rücken. Er kann sich vor Schmerzen zunächst nicht aufrecht halten.

… in den Kessel

Ich (Ina) stehe etwas abseits. Ein einmaliger Ruf „Hoch die Internationale Solidarität“ genügt, um aus der Residenz verwiesen zu werden. Vor der Absperrung warten wir mit noch ein paar Hundert hinzugekommenen Gipfelgegnerinnen auf die restlichen Leute aus der Residenz. Wir sind jetzt et-
wa fünfhundert Personen, rufen weiterhin Parolen. Nach ca. einer Viertelstunde sind wir einge-
kesselt. In diesem Moment schießt dir durch den Kopf, dass du hier jetzt nicht mehr heil heraus kommst. Wir stehen jetzt in Ketten. Es erfolgen immer wieder Angriffe auf uns. Sie schieben uns brutal zusammen und drängen uns von einer Seite auf die andere. Dabei verlierst du zeitweise den Boden unter den Füßen, hast Angst, hinzufallen und niedergetrampelt zu werden. Wenn auf der einen Seite von der Polizei geschoben wird, müssen wir zur anderen Seite ausweichen. Die dort stehenden Polizisten, die offensichtlich über die Gesamtsituation völlig im Unklaren gelassen werden, gehen dann gegen diese „Provokation“ bzw. diesen „Ausbruchversuch“ gewaltsam vor — Knüppel. Das ganze „Spiel“ hat System. Das wiederholt sich, „Sani“-Rufe häufen sich, Kranken-wagen sind nicht zu sehen. Wir stehen zeitweise so eng, dass du keine Luft mehr bekommst. Es wird immer heißer. Trotzdem schreien wir weiterhin Parolen wie „Keine Gewalt“ und „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ Es macht sich jetzt ein Gefühl der Verzweiflung und Isolation breit. In dieser Situation kommt Unterstützung von außen. Dort haben sich ca. zweihundert Leute ange-sammelt. Sie rufen „Lasst sie raus“ und werfen Getränketüten, Äpfel, Kekse, Semmeln und Ziga-retten über die Reihen der Polizisten in den Kessel. Unsere Isolation ist durchbrochen. Übermütig rufen wir der Staatsgewalt entgegen: „Wir haben Freunde und ihr nicht.“ Mittels Megaphon for-dern wir eine Spontandemo zum Marienplatz. Zwei Leute versuchen direkt mit der Einsatzleitung zu verhandeln. Diese ist lange nicht „auffindbar“. Schließlich teilen sie uns mit, dass offensichtlich von der Staatsgewalt kein Interesse bestehe, die Situation zu entschärfen. Bereits seit 12.00 Uhr erfolgen Reihenfestnahmen, d.h. es werden jeweils etwa zehn Leute abgegriffen, kurze Pause, die nächsten zehn usw. Leute werden aus den Reihen herausgeknüppelt. Ich sehe, wie ein Trupp USK-ler in die Menge stürzt. Sie prügeln wild und ziellos drauf los — Schultern, Kopf und Magen bevor-zugt. Einige von ihnen kommen auf einen Mann zu. Er bekommt panische Angst und beginnt am ganzen Körper zu zittern. Er zögert kurz. Er will seiner Freundin noch schnell ein Bussi geben. Deshalb wird er brutalst aus den Ketten gerissen und ebenso abgeführt. Ein Polizist belästigt eine Frau ständig mit Bemerkungen wie „Die Frau gefällt mir, die find ich echt gut“ und unterhält sich darüber auch noch laut mit einem Kollegen. Um ca. 13.00 Uhr sind noch etwa fünfzig Leute im Kessel. Jetzt trifft es uns. Wir werden einzeln noch an Ort und Stelle abgefilmt. Du gehst mit dem Polizisten, der dich am Arm führt, bis zur Ettstraße, vorbei an der Fußgängerzone. Das ist demü-tigend und erschreckend. Du siehst die Passanten, die dich anglotzen und schweigen.

In der Ettstraße

Im Polizeipräsidium an der Ettstraße herrscht das totale Chaos. Wir erfahren, dass kein Platz mehr ist im Knast. Jetzt stehen also etwa hundert Leute mit „ihrem“ Polizisten vor dem Gebäude. Außer-
dem stehen zwei große und ein kleiner Polizeibus da. Aus den Bussen dringen Parolen. Auch wir, die wir draußen vor dem Polizeigebäude stehen, steigen in das Rufen ein: „Hoch die Internationale Solidarität.“ Das hebt die Stimmung etwas. Die Gefangenen trampeln mit den Füßen gegen Boden und Wände. Die Busse kommen ins Schaukeln. Jeder, der hier vor dem Gebäude ankommt, wird abgetastet, Taschen werden durchsucht, „verdächtige“ Gegenstände — u.a. mein Knirps-Schirm — werden sichergestellt. Die Polizisten füllen die Festnahmebögen aus. Sichtlich überfragt, müssen sie sich über die Gründe austauschen. Du kommst dir vor wie auf dem Flohmarkt, nur dass hier ausgehandelt wird, weswegen dich dieser Staat deiner Freiheit beraubt. „Meinem“ Polizisten fällt wohl ein rechter Grund nicht ein. Im Gebäude sitzen wir dann zwei Schreibtischbeamten gegen-über. Der eine fragt: „Weshalb festgenommen?“ „Mein“ Polizist: „Äh, …, Verstoß gegen das Ver-sammlungsgesetz, …, äh“. Pause. Er schaut den anderen hilfesuchend an, dieser führt zu Ende: „Weil den Platz trotz Aufforderung nicht verlassen!“ „Mein“ Polizist nickt erleichtert. Im Gespräch mit anderen Gefangenen stellt sich heraus, dass die Begründungen von Sitzblockade (auf Nach-frage bekommen wir zur Antwort, dass sowohl Stehen, als auch Sitzen eine Sitzblockade sei) und Nötigung bis zu Landfriedensbruch reichen. Wir werden außerdem der folgenden Behandlung unterzogen: zwei Sofortbilder werden angefertigt, Personalien überprüft und ein Fingerabdruck abgenommen. Rechtsbelehrung erfolgt keine. Ein Festgenommener hat Knüppelschläge auf den Kopf und in den Magen bekommen. Eine Augenverletzung ist deutlich sichtbar. Wir fordern mehrmals einen Arzt. Vergeblich. Nachdem Sachen von mir beschlagnahmt werden, bitte ich darum, die Teile einzeln aufzulisten. Der Polizist reagiert total wütend mit Drohgebärden. Ich will mit einem Anwalt telefonieren, lasse es jedoch verstört bleiben, da ich wieder unfreundlich ange-redet werde.

In der Zelle

Als ich (Ina) um ca. 15.00 Uhr die Zelle betrete, bekomme ich erst mal einen Schock, mein erster Gedanke ist, dass es hier ja fast aussieht wie im KZ. Die in der Reihe stehenden Holzpritschen, das verrostete Waschbecken, das offene Klo. Die Zelle hat ca. 40 qm, Pritschen für zwanzig Leute. Doch es werden immer mehr Leute hereingestopft. Wir sind schließlich dreiunddreißig. Den Was-
serhahn können wir nicht aufdrehen, dies geschieht in unregelmäßigen Abständen von außen. Einmal läuft das Wasser, bis die halbe Zelle überschwemmt ist. Das Klopapier geht nach kurzer Zeit aus. Nach sechs (!) Stunden bekommen wir eine (!) Rolle. In der Zellentür ist ein Guckloch. Du hast das Gefühl, dass da ständig einer reinschaut. Es sind einige Verletzte hier. Wir rufen nach einem Arzt. Nach Stunden erscheint der Polizeiarzt – äußerst unfreundlich. Kurze Untersuchung. Allheilmittel: Salbe, Verfallsdatum abgelaufen. Eine Mitgefangene mit schmerzender Handverlet-
zung wird erst nach Stunden zu einem Arzt ihrer Wahl gebracht. Anschließend wird sie vernom-
men und für frei erklärt. Trotzdem muß sie noch mal für vier Stunden in die Zelle. Über die offenen drei kleinen Zellenfenster erzählt uns eine Frau in der Nebenzelle, dass sie trotz Gehirnerschütte-
rung — sie war kurz beim Amtsarzt — noch einsitzt. Sie ist allein in der Zelle …

Auf dem Gang

Ich (Miriam) werde in den Gang im 1. Stock gebracht. Die Zellen sind alle voll. Da sitzen etwa hundertfünfzig Leute auf dem Boden, ein freies Fleckchen ist nicht leicht zu finden; Du kommst schnell ins Gespräch. Es geht vor allem darum, wann wir rauskommen. Das Gerücht geht um, dass einige bis Donnerstag in Unterbindungsgewahrsam genommen werden. Das drückt auf die Stim-
mung. Etwa dreißig BGS’ler stehen bewaffnet um uns herum. Jetzt hat einer von ihnen ein Mega-
phon. Er versucht’s auf die lockere Tour. Er sagt, dass er jetzt ein paar Leute aufrufen wird, die dem Haftrichter überführt werden. Zu einigen Aufgerufenen sagt er noch extra dazu: „Komm, steh auf, dann kannst du sowieso gleich gehen.“ Nachdem so etwa zwanzig weg sind, schreit uns einer von ihnen aus einer anderen Zelle zu: „Alles Lüge, ich sitze in der Zelle“. Ohne Haftrichter. Er war einer von denen, die angeblich gleich gehen konnten. Wir beschließen jetzt, entweder kommen wir alle hier raus oder keiner. Der Psycho-BGS’ler versucht es noch mal. Wir reagieren nicht. Wir hö-
ren aus anderen Gebäudeteilen immer wieder Parolen. Plötzlich kommen auch von der Straße Soli-Rufe herauf. Das ist ein gutes Gefühl. Irgendwann fangen wir an, nach Essen zu rufen. Schließlich werden uns ein Topf Saft — das reicht für einen Becher für jeden — und eine kleine Scheibe Brot pro Person gebracht. Das ist die Versorgung des Staates für elf Stunden und mehr. Musst du aufs Klo, begleiten dich zwei Uniformierte — je nachdem Frauen oder Männer. Die zwei stellen sich vor der Klotüre auf, sie muss ein Stück offen bleiben. Wir rufen jetzt nach einem Anwalt. Keiner hier konnte bisher irgendwo anrufen. Einige von uns verhandeln mit der Einsatzleitung. Etwa gegen 18.00 Uhr — sechs Stunden nach den ersten Reihenfestnahmen — dürfen zwei Leute den Ermitt-lungsausschuss (EA)1 anrufen. Sie kommen wieder. Dort war besetzt, nach fünf Minuten durften sie nicht mehr. Auch wurde versucht, einen anderen Anwalt als Anwalt des EA auszugeben. Wir protestieren lautstark. Schließlich können die zwei es noch einmal versuchen. Gegen 20.00 Uhr erscheint unser Anwalt. Er sagt, dass wir alle heute noch raus kommen. Ab 22.00 Uhr werden wir entlassen. Die letzten kommen gegen 1.00 Uhr raus. Draußen werden wir von ca. dreihundert Leuten empfangen! Ich stelle mich dazu und warte auf ein paar Freunde. Einen treffe ich noch. Er war sechs Stunden im Polizeibus. Auf 1 qm — vier Leute, aufs Klo konnten sie nur anfangs, später nicht mehr …

Eine Massenfestnahme — kein Einzelskandal, als welcher er jetzt so gerne hingestellt wird. Kessel gab es z.B. in Bremen 1985, Hamburg 1986, Mainz 1986, Berlin 1987, Stuttgart 1990, Mannheim 1992. Der zunehmenden Repression nach innen, verbunden mit dem Abbau von bürgerlich-demo-kratischen Grundrechten, dem von diesem Staat praktizierten Rassismus, steht nach außen der Kriegskurs gegenüber.

Dabei sollten wir unsere Herren nicht nur stören, sondern ihnen den Weg versperren, bevor es zu spät ist.

Miriam und Ina
21 und 19 Jahre alt

:::

1 Der Ermittlungsausschuss ist eine Arbeitsgruppe, die sich um verhaftete Leute kümmert.


KAZ Kommunistische Arbeiterzeitung 233 vom 14. August 1992, 16 f.