Materialien 1992

Weltwirtschaftsgipfel - München, Juli 1992: Rückkehr zur innenpolitischen Normalität!

Widerspruch ist anzumelden gegen bajuwarische Überheblichkeit und landesväterlichen Dünkel. Des bayerischen Staatschefs Erklärung aus Anlass der Einsätze einer Polizei während des Weltwirtschafts-Gipfels, dass nämlich „das etwas stärker Hinlangen bayerische Art“ sei, verlangt der Korrektur. Was Streibl als bayerisches Brauchtum reklamiert, jenes Einkesseln von Demonstranten und polizeiliche Prügel für verbalen Widerspruch, ist kaum mehr als ein Plagiat Berliner Polizeitraditionen aus den endsechziger Jahren. Im Laufe der Zeit strahlten sie über die ganze Republik aus, bis sie nach 25 Jahren endlich München erreichten.

Taktisches Einkesseln

Wer da einst vor der Kavallerie der Berliner Polizei floh, die vom hohen Ross den Knüppel schwang, wird sich der Worte Duensings, des Polizeipräsidenten und Begründers des taktischen Einkesselns, vom 6.   Juli 1967 erinnern:

„Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, nicht wahr, dann müssen wir in der Mitte hineinstechen, damit sie an den Enden auseinander platzt.“

Wie erfolgreich seine Polizeiführer diese Taktik beherrschten, erwies der 2. Juni 1967 vor der Berliner Oper. Heißa, wurde da zum Schutz des Schahs eingekesselt und „hineingestochen“. Dass ein Beamter nicht nur schlug, sondern den Revolver zog und Benno Ohnesorg erschoss, war gewiss regiewidrig, wenngleich vor dem Hintergrund der Polizeiausbildung und offizieller Feindbildpflege nicht zufällig. Arg geriet in der Folgezeit die Polizei in die Kritik. Dafür ausgebildet, kommunistische Feinde niederzumachen, hatte sie die Söhne und Töchter der besseren Gesellschaft aufgemischt. Und so kam’s zum Skandalgeschrei der Väter, die in „Zeit“ und „Spiegel“, in „Stern“ und „Frankfurter Rundschau“ die Feder führten.

Besserung gelobte alsbald die Polizei. „Nicht Schlachten zu gewinnen, sondern Schlachten zu vermeiden“ galt als neue Losung, nachdem begriffen war, daß eine von der Polizei auf der Straße gewonnene Schlacht gleichwohl in der Öffentlichkeit und in den Medien verloren werden kann.

Gerichte: Kessel rechtswidrig

Nach und nach gingen die alten Polizeiführer in Pension. Fast schien es, als sei ihr in den Kesselschlachten des II. Weltkrieges gewonnener Erfahrungsschatz verloren gegangen. Doch in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zeigte sich, dass diese Kenntnisse in der Polizei überlebt hatten. Reaktiviert wurde das Einkesseln von Demonstranten zunächst im Norden Deutschlands, beginnend mit dem Bremer Kessel im Juli 1985. Als es galt, den im Gefolge des Reaktorunglücks in Tschernobyl neu aufflammenden Protest gegen den Einsatz der Kernenergie in rechte Bahnen zu lenken, besann Hamburgs Polizei sich am 8. Juni 1986 auf dieses taktische Mittel und hielt auf dem Heiliggeistfeld rund achthundert Demonstranten ca. zwölf Stunden umstellt. Mochte es für Betroffene auch lästig sein – so massiv „hineingestochen“ wie 1967 in Berlin wurde nicht.

Sowohl ein Bremer (im April 1990) als auch ein Hamburger Verwaltungsgericht (VG) erklärten später die Kessel für rechtswidrig. Doch zwischenzeitlich war das Einkesseln längst zur Mode geworden. Am 16. September 1986 plagiierte die Mainzer Polizei das Modell und kesselte ca. hundert Demonstranten mehrere Stunden ein. Im September 1990 wurde auch dieser Einsatz von einem VG als rechtswidrig gewertet. Und dito kam das Landgericht Amberg, den Schwandorfer Kessel vom Oktober 1986 beurteilend, von dem ca. zweihundert Demonstranten betroffen waren, nach 3½ Jahren im Mai 1990 zum identischen Ergebnis.

Doch zuvor hatte sich auch die Polizei Berlins alter Zeiten erinnert. Bei strömendem Regen wurde am 12. Juni 1987 am Tauentzien rund sechshundert Gegnern des Berlin-Besuchs von US-Präsident Reagan per stundenlangem Kessel vorgeführt, wo die Demonstrations- und Meinungsfreiheit auf Grenzen stößt. Kaum noch erwähnenswert, dass wiederum ein VG (Juli 1989) diesen Kessel für rechtswidrig befand. Doch die Sanktionswirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen geht gegen Null. Mehr als die gerichtliche Erklärung, dass ein Verwaltungsakt „rechtswidrig“ gewesen sei, haben Polizisten nicht zu fürchten – eine recht stumpfe Waffe, um Polizisten auf den Pfad rechtsstaatlicher Tugend zurückzuführen.
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Im Gegensatz zu den amtlichen Schutzbehauptungen zugunsten der Ordnungshüter steht nach Informationen der Humanistischen Union schon jetzt fest: Die Münchner Polizei hat am 6. Juli 1992 ihre Sicherungsfunktion in unverantwortlicher Weise überschritten; zahlreiche Beamte haben einen ursprünglich geringfügigen Anlass zu einer grundsätzlichen Abrechnung missbraucht. Dafür spricht nach Ansicht der HU vor allem die Tatsache, dass die Polizei die Demonstrierenden nicht etwa pflichtgemäß nur vom zu schützenden Gebiet abdrängte, sondern sie in einer Nebenstraße systematisch einkesselte und dann großenteils zusammenschlug.

Setzen Sie für München Berlin ein und für das Datum den 2. Juni 1967: Dies war die Presseerklärung der Humanistischen Union zum Berliner Demonstrationsskandal vor 25 Jahren, bei dem der Student Benno Ohnesorg von der Polizei getötet wurde.
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Knüppelnde Polizei – ein Freiheitssymbol?

Aber selbst, nachdem ein Strafgericht im November 1991   gegen vier Polizeiführer, die für den Hamburger Kessel verantwortlich waren, wg. „Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt“ Geldstrafen zwischen 8.400 bis 16.200 DM verhängte, blieben Polizeiführer mit politischer Rückendeckung als Hangtäter im pathologischen Wiederholungszwang verfangen. Im Juni 1992 wurden in Mannheim-Schönau rund zweihundertfünfzig Menschen ca. zwei Stunden „vorübergehend in Gewahrsam“ genommen, die ihre Solidarität mit Asylbewerbern ausdrücken wollten.

Nun schließlich im Juli der Kessel in München. In der „Süddeutschen“ sah sich ein Reporter an DDR-Verhältnisse erinnert. Mit Freude an Polemik las ich’s – doch trifft’s die Sache nicht. Denn seit den Schüssen aus russischen Panzerrohren und Kalaschnikows im Juni 1953 herrschte bis zum Oktober 1989 Friedhofsruhe auf den Straßen der DDR nur unterbrochen von Parteiaufmärschen und jenen der „bewaffneten Organe“. So erinnern mich die Bilder knüppelnder Polizisten und festgenommener Demonstranten aus München weit mehr an die politische Folklore in der Bundesrepublik als an Verhältnisse in der DDR.

Gipfel 1992 – Der Anfang vom Ende der BRD?

Ein übermächtiger Staatsapparat ist letztlich ohnmächtig. Er vermag den Staat auf Dauer nicht zu sichern, nicht zu schützen, wenn dieser Staat die Freiheit seiner Bürger beschränkt und die Menschenrechte missachtet. Da helfen auch noch so blumige oder großkotzige Politikersprüche nicht weiter.

Das zeigt die Schlussphase des DDR-Staates, wo Kritikern und Oppositionellen weder Meinungsfreiheit noch Versammlungsraum gewährt wurde. „Wir sind ein Volk“ durfte höchstens in evangelischen Kirchenräumen geflüstert werden.

Beim Gipfel in München wurden „Wir sind eine Welt“-Demonstranten von der Polizei brutal zusammengeschlagen, eingekesselt, verhaftet. Deftige Politikersprüche suchten das Vorgehen zu rechtfertigen. Und Meinungsäußerungen, von denen angenommen wurde, sie seien nicht mit denen der Regierungssprecher identisch, wurden zu unterbinden gesucht, die staatlichen Stellen ließen ihnen keinen Raum, verboten Versammlungen. Einige evangelische Pfarrer gewährten Zuflucht.

Johannes Glötzner


Mitteilungen der Humanistischen Union 139 vom September 1992, 60 f.