Materialien 1993

Erinnerung an die Gegenwart

„Wehret den Anfängen“. Eine Ausstellung des Schutzverbandes Bildender Künstler im Münchner Kunstpavillon des Alten Botanischen Gartens

„Wenn Kunst beginnt, sich von der Gegenwart ihr eigenes Bild zu machen, entwickelt sich ein Maßstab für Vergangenheit.“ Noch vor wenigen Jahren glaubten viele, Deutschland sei in den vergangenen Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg, zu einem durch und durch demokratischen Land geworden. Und nun die neuen Auftritte des alten Mobs. Würden wir heute nicht fast täglich an das verbrecherische Regime der Nazis erinnert, wäre die Ausstellung im Pavillon des Alten Botanischen Gartens in München vermutlich überflüssig. Und der Eingangs zitierte Satz von Dieter Lattmann gewänne nicht die Aktualität, die auf unsere Gegenwart ein schärferes Licht wirft.

Lattmann hat auf einer Matinee gesprochen, die im Rahmen der Ausstellung, um die es hier geht, veranstaltet wurde. „Wehret den Anfängen“, heißt sie. Die Idee hatte Guido Zingerl. Neunundvierzig Künstlerinnen und Künstler haben sich – und das ist in unserer durch Konkurrenz und Egoismus geprägten Gesellschaft anders – zusammen an einem Objekt beteiligt. Die Konstruktion des Kunstwerks, das zu einem Mahnmal wurde, ist einfach: Lange Bretter, Latten und Gerümpel aus Holz sind die Basis für einen Scheiterhaufen. In diesem Scheiterhaufen wurden Bilder und Plastiken, also 49 an der Zahl, installiert. Nur zwei Figuren ragen seitlich heraus. Fluchtbewegungen sind angedeutet.

Die Bilder und Skulpturen sind den Themen Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Gewalt gewidmet. Sie hängen wie zerstörte oder der Zerstörung preisgegebene Zitate zwischen den zum Teil angekohlten Latten. Erinnert wird an die Zeit, in der Kunst als „entartet“ gebrandmarkt, in der die, die Kunst machten, mit Berufsverboten belegt, verhaftet oder ermordet wurden. Das alles könnte, wie wir erfahren haben, wieder geschehen. Die Ausstellung überzeugt. Der Aufwand ist gering. Die im Scheiterhaufen verstauten Kunstwerke zielen genau auf die Gegensätze; auf die schöpferischen und die zerstörerischen. Auf Schönheit, die Leben bejaht, und Brutalität, die vernichtet.

Die Ausstellung wurde in München von der lokalen Presse kaum beachtet. Weil der veranstaltende Schutzverband Bildender Künstler gewerkschaftlich, das heißt in der IG Medien organisiert ist? Oder weil diese Installation im Pavillon den Kunstrichterinnen und -richtern zu dürftig erschien? Oder weil der Pavillon bereits seit 48 Jahren von den Künstlern selbst verwaltet wird und auch die Kunst, die man hier präsentiert? Oder einfach: weil man allenthalben ignorant ist?

Auch Siegfried Hummel, der Münchner Kulturdezernent, der auf einer weiteren Matinee über kulturpolitische Fragen referierte, beklagte die einseitige Einstellung der Presse in Sachen Kunst. Der größte Teil der Feuilletons sei – nach wie vor – den hohen, etablierten Ereignissen gewidmet. „Die Kultur-Journalisten ziehen sich in Erhabenheit zurück“, sagte Hummel. Mögliche zukünftige Kultur-Prozesse könnte man auch so in der Landeshauptstadt hemmen. „Wie kann man kulturelle Praxis entwickeln“, sei die Frage? Die Antwort, die relevant wird, dürfte vermutlich ohne die Beteiligung aller Kulturarbeiter kaum gefunden werden.

Einige Bilder von Eckhard Zylla im Münchner Pavillon sind erst später eingetroffen. Der Künstler hat sie auf dem Münchner Marienplatz vor ein paar Wochen gemalt. Es sind Porträts von Einheimischen, die dann zu Negern umgemalt wurden. Was empfinden die porträtierten Menschen, nunmehr Ausländer, aus afrikanischen Ländern kommend, auf der Flucht, vor den deutschen Grenzen, Arbeit und Wohnung suchend? Die Reaktionen der Passanten auf Zyllas Aktion „Negerköpfe“ fielen sehr unterschiedlich aus – von wütender Beschimpfung bis zur Nachdenklichkeit und dem Versuch, das Problem Asyl von dieser Perspektive zu verstehen.

Die Ausstellung „Wehret den Anfängen“ war trotz minimalem Medienecho gut besucht, was für das Unternehmen ebenso wie auch für unabhängige kritische Zeitgenossen, die es realisierten, spricht.

Josef Singldinger


Publizistik & Kunst. Zeitschrift der IG Medien 9 vom September 1993, 37.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: AusländerInnen

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