Materialien 1993

Aufrechter Gang und obrigkeitlicher Zwang

in einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt

Über Freiheit und Unfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern

Auszug aus der Rede von Prof. Dr. Kurt Singer zur Verleihung des Preises „Aufrechter Gang“ der HU München an den Gymnasiallehrer Wunibald Heigl am 14. Dezember 1993

Aufrechter Gang. Vor einigen Jahren besuchte eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern Schulen in Dänemark. Sie berichteten nach ihrer Rückkehr über ihre Beobachtungen:

Über das freiheitliche Klima, die kollegiale Zusammenarbeit, über pädagogische Selbstverantwortung der Lehrer, über die das einzelne Kind unterstützende Arbeit in Klassen mit fünfzehn bis zwanzig Schülern und die großzügige Lehrerweiterbildung. Eine der Berichterstatterinnen sagte: „In den dänischen Schulen gehen die Lehrer ganz anders als bei uns.“ Ich fragte zurück: „Wie meinen Sie das: Die Lehrer gehen in Dänemark anders?“ – „Ja, wie die sich im Schulhaus bewegen, das ist selbstverständlicher als in unseren Schulhäusern, irgendwie freier, da ist alles unverkrampft, die gehen aufrechter.“

Aufrechter. Es gibt Bedingungen im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Schule, die machen Eigen-Bewegung möglich. Da kann man, wie die Lehrerin meinte, „anders gehen“, seinen „aufrechten Gang“ bewahren.

In unseren Schulen ist das nicht selbstverständlich. Hier findet man verbreitet die geduckte Haltung statt des aufrechten Ganges; denn Lehrerinnen und Lehrer werden staatlich beaufsichtigt. Da widerfährt es nicht nur – aber besonders – dem Oberstudienrat Wunibald Heigl, dass ein Vorgesetzter ins Klassenzimmer eindringt, ohne eingeladen zu sein, ohne dass der fragt, ob sein „Besuch“ erwünscht ist, ob er vielleicht störe. Nein, der ungebetene Gast muss „nach dem Rechten schauen“ – oder nach dem Schlechten suchen?

Was stellen Lehrerinnen und Lehrer an, dass man Sie durch eine Regel-Beurteilung oder eine Regel-Verurteilung bis ins hohe Dienstalter verdächtigt? Diese „Schulbesuche“, wie das verfälschende Wort für Kontrolle heißt, finden unangemeldet statt. Bei welchem Verbrechen sollen die Überrumpelten auf frischer Tat ertappt werden? – Und was steckt in den Lehrerinnen und Lehrern, dass sie dem unerwünschten Eindringling nicht den Zutritt verwehren? – Von solcher Gegenwehr habe ich nur einige Male erfahren und da hat sie überraschend gewirkt.

Natürlich gibt es Vorgesetzte, die haben Mut zur Scham. Sie weigern sich, taktlos Kolleginnen und Kollegen zu überfallen; denn sie wollen keine Duckmäuser heranziehen. Deshalb vereinbaren sie mit den Lehrern einen Schulbesuchstermin. Das sind Schulräte mit aufrechtem Gang. Nur wenn sich Lehrerinnen und Lehrer und ihre Vorgesetzten aus der Gängelung befreien und Selbstverantwortung übernehmen, wird die Schule demokratisch.

Bürokratischer Unterordnungszwang hemmt den schulpädagogischen Fortschritt – Ermutigung der Schüler zu demokratischem Handeln

Nichts hemmt den pädagogischen Fortschritt in der Schule mehr, als die undemokratischen Verhältnisse, die in ihr herrschen: die Unterordnung, bürokratische Regelung, Zensur und machtbehauptendes Vorgesetztenverhalten. Dem entspricht auf der anderen Seite die unvorstellbare Gehorsamsbereitschaft von Lehrerinnen und Lehrern. In Autoritätshörigkeit opfern sie ihre pädagogische Freiheit und passen sich an. Sie flüchten in die schutzverheißende Kind-Rolle.

Anders Wunibald Heigl. Er ist erfüllt von demokratischer Überzeugung und pädagogischem Einsatz. Vor vierzehn Jahren gründete er am Werner-von-Siemens-Gymnasium zusammen mit der Schülermitverwaltung die Arbeitsgemeinschaft für Politische Bildung. Er wollte an der Schule ein Forum für politische Diskussionen schaffen. Lehrer, Schülerinnen und Schüler trafen sich wöchentlich in ihrer Freizeit. Sie erarbeiteten politische Informationen für sich und die Mitschüler, verfassten Flugblätter, organisierten Ausstellungen, veranstalteten Podiumsdiskussionen. Sie führten Kultur- und Informationstage zu aktuellen politischen Themen durch wie: Frieden und Abrüstung, Neue Medien, Umweltschutz, Waldsterben, Rassismus, Apartheid, Atomenergie, Rechtsextremismus, Gewalt. – Themen, die heute überlebensnotwendig sind, besonders für Kinder.

Wunibald Heigl unterstützt Jugendliche darin, politisch zu denken und sich öffentlich einzumischen. Das drückt sich in der Arbeit für Ausländerfreundlichkeit aus. Dabei begnügt er sich nicht mit Appellen, sondern erarbeitet mit den Jugendlichen Hintergründe und Argumente: Wie Ausländer ins Land geholt wurden und das Wirtschaftswunder ermöglichten, wie sie leben und arbeiten, wie die Einwanderungs- und Flüchtlingssituation in anderen Ländern ist, was das Asylrecht bedeutet und wie sich die Änderung des „Grundrechts auf Asyl“ auswirkt. Es entstand eine Ausstellung, die an vielen Orten gezeigt wurde: „Das Recht, fremd zu sein – Ausländer in Deutschland.“

Die Jugendlichen politikbereit und politikfähig machen

Die politische Bildungsarbeit von Herrn Heigl überwindet offensichtlich die Politikverdrossenheit Jugendlicher.

 Über hundert Schüler und Lehrer erarbeiteten eine Friedensausstellung (die ihnen Schwierigkeiten mit der Schulleitung einbrachte).

 Mit großem persönlichen Einsatz sammelten die Jugendlichen Erkenntnisse über die Flick-Affäre und bauten dazu Informationsstände auf (der damalige Schulleiter bezeichnete das als „Beispiel negativer erzieherischer Beeinflussung“, als ob dieser negative Einfluss nicht viel mehr von der Affäre ausginge).

 Schülerinnen und Schüler befassten sich mit ökologischen Alternativen zur zerstörerischen Atomkraft und mischten sich damit ein.

Nicht immer waren es so viele, die sich beteiligten: manchmal zwanzig, dreißig oder fünfzig Jugendliche. Aber darin zeigt sich, dass politisches Interesse und Handlungsbereitschaft angeregt wurden. Das wäre dringend erforderlich; denn die letzte Studie des Jugendwerks der Deutschen Shell zeigt auf: Die Gleichgültigkeit der Jugendlichen hat zugenommen. Wie bei ihren erwachsenen „Vorbildern“ gibt es eine „allgemeine Politikmüdigkeit“. Also ist die Arbeit Wunibald Heigls ganz im Sinne des demokratischen Erziehungsauftrages: Kinder und Jugendliche zu politikfähigen, politikbereiten und verantwortungsbewussten Bürgern zu machen Aber das schließt die mündige Kritik an den Herrschenden ein und die missfällt denen. Deshalb die Mahnung, Lehrerinnen und Lehrer sollten nicht „politisch“ werden?

Ich möchte Lehrerinnen und Lehrer einschließen, die sich ebenfalls für Politische Bildung und die Humanisierung der Schule einsetzen und denen vielfach die gleiche Verachtung und Verfolgung widerfährt wie dem Preisträger. Politik gehört in die Schule. Nur so können Jugendliche Politik lernen: als grundlegende Erkenntnis über Politik, als Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Problemen und als politische Erfahrung durch Mitsprache und echte Mitbestimmung in der Schule. Öffentliche Verantwortung ist nur erlernbar durch öffentliche Verantwortung der Schüler in Schulleben und Unterricht. Dazu müssen Eltern, Lehrerinnen und Lehrer selbst politisch werden, sich mit ihrem moralischen Denken kenntlich machen und in ihrer öffentlichen Teilnahme den Kindern und Jugendlichen Vorbild sein.

Würdigung durch die Theodor-Heuss-Medaille – Entwürdigung durch Vorgesetzte

Wunibald Heigl ist so ein Vorbild. Für seine politische Bildungsarbeit wurde ihm und seiner Arbeitsgruppe die Theodor-Heuss-Medaille verliehen für den „beispielgebenden und ausdauernden Einsatz in der Auseinandersetzung mit ausländerfeindlichen und rechtsextremistischen Tendenzen in und außerhalb der Schule“. Im Rahmen dieser Verleihung, an der auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker teilnahm, wurde sein „nachahmenswertes Beispiel für Zivilcourage und vorbildliches Verhalten“ gewürdigt.

Nicht gewürdigt wird es hingegen von Schulleitung, Schulreferat und Kultusministerium. Deren Verhalten reicht bis zur Entwürdigung. So etwa, wenn in einer heimlichen Aktion Klausuren aus zwei Jahren unter einem fadenscheinigen Vorwand nachkorrigiert wurden: ohne Gespräch mit dem Lehrer, ohne Erklärung, hinterrücks. Das folgt dem „Prinzip Lauschangriff“. Nie kam am Ende solcher Aktionen eine Klarstellung oder eine Entschuldigung der Vorgesetzten für das entwertende Verhalten. Und was zum Bedrückendsten gehört: Es kommt keine Unterstützung von jenen Politikern und Amtsinhabern, die eine Rede halten würden, wie ich das hier tue – aber nicht zur Stelle sind, wenn es darum geht, einem Bürger beizustehen, dem Unrecht geschieht.

Nicht Würdigung sondern Entwürdigung: Herr Heigl wurde bei einer dienstlichen Beurteilung um eine Note herabgestuft, obwohl er Fachbetreuer in Sozialkunde, Wirtschaft und Recht war, als Kollegstufenbetreuer arbeitete und sich aktiv im Personalrat einsetzte. Von den Schülern wurde er als Verbindungslehrer gewählt. Er ermöglichte Wahlunterricht in Wirtschaft und Politik und organisierte Veranstaltungen für die Schüler. Während der Ferien führte er Schulfahrten in die DDR durch. Zur Abiturvorbereitung hielt er sozialpolitische Wochenendseminare mit Landtagsabgeordneten.

Neben all dem arbeitet er aktiv in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mit. Er ist nicht nur Diplom-Kaufmann, sondern hat die Lehrbefähigung in Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde, Wirtschaft und gibt Englischunterricht. Vor fünf Jahren hat er zusammen mir Kolleginnen und Kollegen ein Tagesheim für Schüler mitbegründet. Seit vierzehn Jahren leitet er eine von ihm ins Leben gerufene Initiative „Schüler helfen Schülern“: etwas Ungewöhnliches; denn die Schule ist üblicherweise nicht der Ort, an dem man sich um andere sorgt.

Über vierzig Kolleginnen und Kollegen des Gymnasiums empörten sich öffentlich durch ihre Unterschrift über die Herabstufung von Heigl1 , ohne Erfolg. Ein politisch handelnder, kritischer Lehrer sollte bestraft werden. Und allen anderen wurde ein einschüchterndes Beispiel vorgeführt …

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1 Seit Herbst 1994 baute Wunibald Heigl im Schulreferat der Landeshauptstadt München den Sachbereich „Koordination der Erziehung gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt im Bereich der Münchner Schulen“ auf.


Mitteilungen der Humanistischen Union 145 vom März 1994, 15 f.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Bürgerrechte

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