Materialien 1993

Deutsche Soldaten in alle Welt?

Zum Ostermarsch 1993 hielt Elmar Schmähling, Flottillenadmiral a. D., auf dem Münchner Marienplatz eine Rede, die wir im folgenden, leicht gekürzt, abdrucken und zur Diskussion stellen. Schmähling wurde im Januar 1990 gegen seinen Willen in den einstweiligen Ruhestand versetzt, weil er seit Mitte der 80er Jahre die Sicherheitspolitik der Nato und der BRD öffentlich kritisiert hatte. Nach zweiunddreißig Jahren Bundeswehr, unter anderem auch eine Weile als Chef des Militärischen Abschirmdienstes, arbeitet Schmähling heute als freier Publizist und Buchautor ( Der unmögliche Krieg , 1990; Ohne Glanz und Gloria . Die Bundeswehr – Bilanz einer neurotischen Armee, 1991) und ist dabei zu einem der schärfsten Kritiker der Bundeswehr und des Militärs insgesamt geworden.

Ostermärsche sind nichts als friedensbewegte Nostalgie – so meinen manche. Heute seien Ostermärsche doch völlig überflüssig. Schließlich seien die Atomwaffenarsenale – traditionell Ziele der Ostermarschbewegung – drastisch verkleinert. Zudem stünden sich die atomaren Supermächte nicht mehr feindselig gegenüber. Somit sei die atomare Gefahr endgültig vorüber. Weit gefehlt.

Erstens: Trotz der weitreichenden Abrüstungspläne existieren noch zigtausende atomarer Sprengköpfe, teilweise in unsicherer Verwahrung.

Zweitens: Die Gefahr der Nuklearkatastrophe aufgrund menschlichen oder technischen Versagens besteht fort.

Drittens: Die Zahl der A-Waffen-besitzenden Staaten nimmt weiter zu, weil die Nuklearmächte an diesen Waffen festhalten.

Allein deshalb müssen die Menschen unbeirrt weiter fordern, dass Atomwaffen ebenso wie biologische und chemische Waffen endlich geächtet sowie deren Herstellung und Besitz völkerrechtlich verboten werden. Heute, nach Auflösung des Ost-West-Konflikts, wird in Bonn eine neue atomare Bedrohung ausgemacht. Diesmal kommt sie angeblich aus dem Süden. Unsichere Regime mit fundamentalistischer Staatsreligion können künftig Westeuropa auch mit Massenvernichtungswaffen bedrohen, heißt es. Gegen dieses Risiko müsste gerade das neue größere und mächtigere Deutschland Streitkräfte zur militärischen Intervention besitzen. Die Wahrheit ist simpler: Wie während des Kalten Krieges soll das Gespenst einer neuen angeblichen militärischen Bedrohung wiederum Wasser auf die Mühlen von Militärbürokratie und Rüstungsindustrie leiten.

Kaum ist mit Erlangung der vollen Souveränität und Wiedervereinigung auch für die Deutschen der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen, schon gerinnt deutsche Außenpolitik wieder zu Militärpolitik.

Wieder dürfen Militärs in den sogenannten VERTEIDIGUNGSPOLITISCHEN RICHTLINIEN die deutschen „Sicherheitsinteressen“ militärisch definieren. Wieder füllen Generäle das Vakuum des lange ausgehöhlten „Primats der Politik“. Krieg soll wieder Mittel der Politik sein. Allerdings soll Krieg nicht mehr Krieg heißen, sondern „Frieden schaffen“.

Angesichts dieser „neuen militärischen Normalität“ der Deutschen geschieht etwas Unerwartetes: Immer mehr notorische Friedensfreunde, Linke, Grüne und Kirchenleute fordern eine militärische Intervention im ehemaligen Jugoslawien.

Ich fordere diese auf, ganz konkret zu sagen, welche Art von militärischer Gewalt sie befürworten, gegen wen und mit welchem Ziel. Wollen Sie, dass das Morden in Bosnien beendet wird? Mit Krieg? Im Krieg werden Soldaten zu Mördern! Wollen Sie, dass das Vergewaltigen aufhört? Durch Krieg? Im Krieg werden Soldaten zu Vergewaltigern! Wollen Sie, dass unschuldigen Menschen Häuser und Heimat erhalten werden? Mit Krieg? Im Krieg zerstört und vernichtet die grobschlächtige Militärmaschinerie undifferenziert. Oder glauben Sie etwa an „chirurgische Schläge“? Es gut meinen, reicht nicht.

Merken Sie gar nicht, wessen Geschäft Sie betreiben? Sie wollen, dass der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Der Beelzebub lacht und winkt dankend ab. Aber nur, weil er diesmal nicht interessiert ist.

Ob Sie es wollen oder nicht, Sie legitimieren militärische Gewalt, damit Krieg und in der Folge die „kriegsüblichen“ Greueltaten. Merken Sie gar nicht, dass Sie späte Opfer der amerikanischen Lügenpropaganda des letzten Golfkrieges sind? Glauben Sie wirklich an den „humanen Krieg“, in dem die Bösen bestraft und die Guten geschont werden?

Natürlich wäre es möglich, gewaltsam das Schießen im ehemaligen Jugoslawien vorläufig zu beenden. In den westlichen Waffen- und Munitionsarsenalen des Kalten Krieges lagert noch genug, um die serbischen, kroatischen und muslimischen Waffenträger zu töten und viele ihrer Waffen zu zerstören. Das dauert halt ein paar Monate (oder Jahre?). Inzwischen werden aber nicht weniger, sondern mehr Menschen, auch Unschuldige ermordet, vergewaltigt und vertrieben.

Wenn Sie wirklich Menschenleben retten und der Gewalt Einhalt gebieten wollen, dann unterstützen Sie Aufbau und Einsatz internationaler Polizei.

Wo Militär blind und wahllos zerstört, muss Polizei die Verhältnismäßigkeit von Ziel und Mittel beachten. Während Militär wahllos tötet und vernichtet, muss Polizei Leben schützen und Menschen retten. Während Krieg stets auf Sieg und Unterwerfung setzt, muss Polizei der Rechtsprechung zuarbeiten und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens dienen.

Sieht eigentlich niemand in Bonn, dass sich unsere Nachbarn schon wieder vor deutscher Normalität zu fürchten beginnen? Angeblich gebeten, gerufen und gedrängt, zwängen sich die wirtschaftlich starken Deutschen in jede Machtposition, die sich auftut. …

Deutsche Soldaten waren Mörder und Gewalttäter an Millionen von Menschen. Mord und Vergewaltigung im heutigen Bosnien stehen in der traurigen Tradition „kriegsüblicher“ Greueltaten, auch durch deutsche Soldaten.

In unglaublicher Verfälschung der Geschichte haben die überlebenden Hitlergeneräle und -admirale die Legende vom missbrauchten deutschen Soldaten aufgebracht und verbreitet. Unbefleckt hätten die ewigen preußischen Militärtugenden den Morast nationalsozialistischer Barbarei überstanden. Diese Nachkriegslüge, die wie andere über Schuld und Verstrickung unserer Eltern und: Großeltern hinwegtäuschen sollte, war der Bazillus, der die neuen deutschen Streitkräfte, die Bundeswehr, von Anfang an mit verhängnisvollem Geist infiziert hat. In der Bundeswehr findet der alte Bazillus „Militarismus“ jetzt wieder fruchtbaren Boden. Erinnerung tut Not an die unsägliche Rolle, die deutscher Nationalismus, deutscher Größenwahn, deutscher Imperialismus und deutscher Militarismus in der Geschichte dieses Jahrhunderts gespielt haben.

Nach dieser Erfahrung braucht die Welt kein deutsches Militär mehr, auch nicht im Gewand des angeblichen Friedensengels. Auf dem Weg zu einer funktionierenden Weltordnung im Rahmen der reformierten UNO, in der nationale Streitkräfte einer internationalen Weltpolizei weichen müssen, braucht die Welt weder deutsche Soldaten noch deutsche Waffen. Die Welt braucht vielmehr deutsche Technik, deutsches Handwerk und deutsches Ingenieurwissen als Beitrag zur friedlichen Entwicklung der Völker. Und die Welt braucht endlich Gerechtigkeit für alle Menschen. Nur Gerechtigkeit, nicht Gewalt, schafft wahren Frieden.

Da können wir Deutsche uns hervortun und unserer geschichtlichen Verantwortung gerecht werden.

Elmar Schmähling


Schwabing extra. Zeitung der Schwabinger Friedensinitiative 5/1993, 2.