Materialien 1993

Unsere Solidarität gilt den AntifaschistInnen

Auszüge aus der Rede von Dirk Joussen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,

ich spreche hier als Mitglied des Allgemeinen StudentInnenausschusses, des AStAs der Geschwi-
ster-Scholl-Universität, so wie wir hier diese Universität nennen …

Alle Personen aus dem Kreis der Weißen Rose wurden Opfer der Nazi-Diktatur, manche von ihnen sind Überlebende der Haft in Konzentrationslagern. Die Fachschaftenkonferenz sowie der AStA hätten sich deswegen gewünscht, dass heute an dieser Stelle jemand die Gedenkansprache hielte, die oder der als Opfer der damaligen Diktatur sprechen würde, und nicht jemand, der einmal zur Täterseite gehört hat …

Für diese Gedenkveranstaltung wurden Karten vergeben. Die StudentInnenvertretung erhielt ein Kontingent von vierundvierzig Stück. Die Fachschaften haben auf der letzten Fachschaftenkonfe-
renz beschlossen, die Karten nicht in Anspruch zu nehmen. Vielmehr wurden sie zur Verfügung gestellt, um denjenigen Gruppen, Organisationen und Personen eine Teilnahme an dieser Veran-
staltung zu ermöglichen, deren Einladung, wie wir es sehen, für die Unileitung eine Selbstverständ-
lichkeit hätte sein sollen, es offensichtlich aber nicht war …

Stellvertretend für viele möchte ich auf’s herzlichste begrüßen: [es folgen VertreterInnen der Sinti und Roma, der Jüdischen Kultusgemeinde, des Münchner Flüchtlingsrats, der VVN /BdA, des Ausländerbeirats, der Münchner SchülerInnenkoordination und des DGB-Bildungswerks, d.Red.] … Ihnen allen, den Genannten wie den Nicht-Genannten, und vielen AntifaschistInnen mehr, aus allen Spektren, die hier nicht vertreten sind, gehört unsere Solidarität …

… die Nazi-Diktatur als solche (wäre), wie auch zum Schluss die totale Mobilisierung der Bevölke-
rung für den „Endsieg“, niemals möglich gewesen, wenn es nicht den Nationalsozialisten gelungen wäre, aus und mit der deutschen Bevölkerung das zu schmieden, das zu sein diese schließlich von sich selbst glaubte: die eine, die auserwählte Volksgemeinschaft. Eine, die nur noch Deutsche kannte und sonst keinen Unterschied mehr machte …

Somit kann sich eine ganze Bevölkerung ihrer Mitbeteiligung an rasender Barbarei, und sei es „nur“ durch Weggesehen- oder Weggehört-haben, entledigen. Die neuen politisch Verantwortli-
chen, haben entweder selber auch nichts dazugelernt oder sind womöglich aus der alten Barbarei Übriggebliebene, begrüßen und fördern diesen Prozess der kollektiven Reinwaschung, u.a. bedie-
nen sie sich dazu gerne der passenden Geschichtsschreibung …

In einem unhinterfragten nationalen Konsens, da es um Deutschland angeblich wieder einmal schlecht steht, vereinigen sich die bürgerlichen Parteien zu einer einzigen großen deutschen Volkspartei. Mit den geplanten Grundgesetzänderungen streben sie zweierlei an.

Zum einen soll mit der de facto-Abschaffung des Artikels 16 des Grundgesetzes die völlige Abschot-
tung dieser Gesellschaft gegen ein als bedrohlich propagiertes Außen vorangetrieben werden. Da-
mit dies gelingt, muss zum anderen gleichzeitig die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung da-
von überzeugt werden, es gäbe quasi ein reines, heiles Innen (d.h. die Gemeinschaft der Deut-
schen, definiert nach dem lex sanguine [d.h. definiert über Blutszugehörigkeit, d.Red.], die ihren gefährdeten Wohlstand gegen das Außen verteidigen müssen). Das Erreichen des ersten Zieles ist notwendig, um das zweite verwirklichen zu können. Die Mehrheit der Deutschen muss dazu ge-
bracht werde, die Bundeswehr zum Kriegführen – „friedensstiftende Maßnahmen“ heißt das jetzt – wieder in die ganze Welt zu schicken. Hier hakt es noch ein wenig, weil auch dem das Grundgesetzt aus der geschichtlichen Erfahrung heraus noch einen Riegel vorschiebt …

Sehr geehrter Herr von Weizsäcker, demnächst wird Ihnen ein Gesetzentwurf zu einem neuen Asylrecht zur Unterzeichnung vorgelegt werden … Ich möchte Sie hiermit, sehr geehrter Herr Bun-
despräsident, im Namen der Fachschaftenkonferenz und des AStAs der Geschwister-Scholl-Uni-
versität München auf das Dringlichste auffordern: Verweigern Sie Ihre Unterschrift einem Geset-
zesentwurf, der, einmal zum Gesetz geworden, die Würde der Verfolgten und tatsächlich die Wür-
de der Deutschen unwiederbringlich beschädigte!


Stadtratte 13 vom März/April 1993, 13.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Gedenken

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