Flusslandschaft 1993

Gedenken

Im Schatten der Bavaria steht ein Kriegerdenkmal, vor dem die Stadt regelmäßig einen Kranz nie-
derlegen lässt.1

Am 30. Januar findet eine Demonstration anlässlich des 60. Jahrestags der Machtübergabe an die Nazis statt. Motto: „Gegen Neonazismus, rechte Gewalt und Rassismus“

Die Ludwig-Maximilians-Universität am Geschwister-Scholl-Platz 1 gedenkt am 15. Februar der Hinrichtung der Geschwister Scholl und der anderen Mitglieder der „Weißen Rose“. Bundespräsi-
dent von Weizsäcker besichtigt vor der offiziellen Feier eine Ausstellung zur „Weißen Rose“. Dabei wird er mehrmals mit seiner eigenen NS-Vergangenheit konfrontiert.2

Wolfram Kastner: „Im Justizpalast in München wurden Mitglieder der Weißen Rose 1943 vom sog. Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Ein Hausmeister der Universität hatte sie beim Verteilen von Flugblättern beobachtet und denunziert. Roland Freisler, der fanatische Präsident dieses NS-Gerichts, reiste für den „Prozeß“ extra nach München. Sophie und Hans Scholl, Professor Kurt Huber, Willi Graf, Christoph Probst und Alexander Schmorell wurden nach diesen Urteilen ermor-
det. Im Justizpalast befindet sich seit einiger Zeit neben dem Landgericht auch das Bayerische Staatsministerium der Justiz. 50 Jahre nach diesen Ereignissen gab es dort weder einen Hinweis auf die NS-Scheinjustiz und ihr mörderisches Wirken noch auf deren Opfer von der Weißen Rose. Am Donnerstag, den 18. Februar 1993 warfen die Künstler Wolfram P. Kastner, Franz Kochseder und Kay Winkler im Lichthof des Justizgebäudes 1000 Flugblätter vom 3. Stock ab. Darauf waren das letzte Flugblatt der Weißen Rose sowie ein Text des Juristen und Rechtshistorikers Ingo Müller abgedruckt, der die fatale personelle Kontinuität der deutschen Justiz von der NS-Zeit bis in die Geschichte der Bundesrepublik beleuchtet. Die Flugblätter waren kaum auf dem Boden gelandet, als bereits sechs zivile Justizbeamte die Stufen heraufgehastet kamen und uns die Flugblätter, die wir noch in den Händen hielten, entrissen. Wir wurden festgehalten. Nach kurzer Zeit erschien der Geschäftsleiter des Landgerichts und wiegelte angesichts der anwesenden Fotografen und Journa-
listen ab. Wir hätten die Sache nur anmelden müssen, dann wäre sie sicher genehmigt worden. Wir legten die restlichen Flugblätter mit seiner Zustimmung im Lichthof aus. Als wir zehn Minuten später nochmal nachschauten, waren sie allerdings doch weggeräumt. Am 13. Juli wurde dann tat-
sächlich eine kleine kupferbraune Tafel an einer ebenfalls braun getönten Wand angebracht. An einer ziemlich schlecht beleuchteten Stelle, so dass sie wirklich niemandem auffällt. Und ohne Aus-
schreibung, damit eine etwas auffälligere Gestaltung vermieden würde. Der Text erwähnt mit kei-
ner Silbe die furchtbaren deutschen Todesrichter. Davor sind – gut sichtbar – Informationsständer des Justizministeriums und andere Hinweistafeln aufgestellt. Die Erinnerung wird sorgfältig ver-
steckt.“

In Ottobrunn befand sich ein kriegswichtiges Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Die Ottobrunner Initiative „Spurensuche“ plant an dem Ort einen Gedenkstein zu errichten, was der Gemeinderat allerdings ablehnt. Daraufhin schreibt Freidenker Peter Büchl aus Pfaffenhofen einen wütenden Brief.3

10. Mai, Königsplatz: Aktionstag der Freidenker zur Bücherverbrennung. — Zum 60. Jahrestag der Bücherverbrennung durch die Nazis sprechen Prof. Dr. Heinrich Fink, abgewickelter Direktor der Humboldt-Universität Berlin, und Dirk Joußen, Redner der Studenten/innen am 10. Mai in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität am Geschwister-Scholl-Platz 1. Es lesen Hanne Hiob: Bert Brecht, Jörg Hube: Oskar Maria Graf, Doris Schade: Anna Seghers, Margarete Spitz: Bertha von Suttner, Max Mannheimer: Ernst Toller. Das Traubeli-Weiss-Ensemble musiziert.

„Nur der Wachmann schaut zu“, Kunstaktion im Justizgebäude München zu den Todesurteilen gegen die Mitglieder der „Weißen Rose“ mit Unterbrechung durch sechs Justizbeamte mit F. Kochseder, Kai Winkler und W. Kastner (genaues Datum?).

„Die Landeshauptstadt München gedenkt im Rahmen einer Ausstellung und einer Dokumentation erstmals des Völkermords an Sinti und Roma; endlich wird die ganze Bandbreite der Verantwort-
lichen für Verfolgung, Deportation und Vernichtung offen aufgezählt: ‘… Zu ihnen gehörten bei-
spielsweise die Standesbeamten und Meldeämter, die Daten für die Erfassung der Sinti und Roma bereitstellten und dann in Karteien die rassische Einstufung vermerkten; die Steuerbeamten, die eine Sondersteuer kassierten, die Polizeibeamten, die die Verhaftung und Deportation durchführ-
ten, die Finanzbeamten, die das zurückgelassene Hab und Gut für die Staatskasse beschlagnahm-
ten, die Ärzte, die die erzwungenen Sterilisationen vornahmen; die Richter der Sondergerichte, welche Sinti als „rassisch minderwertig“ zum Tode verurteilten u.v.a.m. Viele waren Zeugen dieses Geschehens …’“4

Das Münchner Stadtmuseum zeigt vom 22. Oktober 1993 bis 27. März 1994 die opulente Ausstel-
lung »München — Hauptstadt der Bewegung«. Der Ausstellungsweg von 1900 bis 1945 misst zwei Kilometer. Einige Besucherinnen und Besucher monieren, dass auch NS-Devotionalien gezeigt würden, was gerade Neonazis zum Besuch der Ausstellung anregen könne. Die prompte Antwort darauf lautet, das sei doch prima. Dann könnten sich die alten und jungen Nazis auch mal mit den Hintergründen dieser Geschichte vertraut machen.

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Zwei als SA-Männer Uniformierte treiben am 5. November in Erinnerung an die Reichspogrom-
nacht fünf andere Menschen, die mit einem gelben Stern gekennzeichnet sind, durch die Fußgän-
gerzone. Zur Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ inszeniert Wolfram P. Kastner zusammen mit Freunden des Kulturvereins „Das andere Bayern“ diese Performance. Die Polizei schreitet ein. „Politiker sagten ‚Das ist nicht der Ort für solche Aktionen’“, erinnert sich Wolfram Kastner. „Ich meine, natürlich ist es der richtige Ort; es begann nicht in Auschwitz, sondern mitten drin.“ Die an der Aktion Beteiligten erhalten Anklagen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz und sogar Morddrohungen. Kastners Anwalt legt sein Mandat nieder. Als die Presse aufmerksam wird, zieht die Staatsanwaltschaft ihre Anklage zurück.

„Die niederbayerische Soziologin Anna Rosmus, die seit 1983 mit ihren Veröffentlichungen Ge-
schichtsklitterung und Verharmlosung von NS-Verbrechen in Bayern aufdeckt und damit einen wertvollen Beitrag zur lokalen NS-Geschichtsschreibung leistet, äußert sich in einem Interview im November zur Mentalität so vieler ihrer bayerischen Landsleute: ‘Wie ist das denn möglich, einfach Befehle auszuführen, wo Christen doch verpflichtet sind nicht zu töten, nicht zu stehlen? … Und da bin ich dann darauf gekommen, dass der Katholizismus in der Umgebung eine wesentliche Rolle spielt, … einer ganz oben befiehlt … und das Fußvolk hat … nichts anderes zu tun als zu gehorchen. Dass das schon von der Religion her selbstverständlich geworden ist … verstärkt wurde vom politi-
schen System, und wenn vom Staat her … über Jahrhunderte hinweg … immer das Gleiche aner-
zogen wird …: Gehorchen und Stillsein – nicht Rebellion. Wenn nicht Zivilcourage gelehrt wird oder gar ziviler Ungehorsam, dann ist es nicht mehr überraschend, wenn einer kommt und sagt: Führer befiehl, wir folgen.’“6

(zuletzt geändert am 28.2.2021)


1 Siehe „Denk-mal“.

2 Siehe „Unsere Solidarität gilt den AntifaschistInnen“ von Dirk Joußen.

3 Siehe „Protest“ von Peter Büchl.

4 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 159.

5 IKuFo-Fotoarchiv

6 Schlickewitz, A.a.O., 160 f.