Materialien 1993

Zweite Bekehrung

Die Markuskirche symbolisiert für mich einen wichtigen Abschnitt meiner Münchner Lebensge-
schichte. Da war ich beim CVJM, dem Christlichen Verein junger Männer, ganz in der Nähe, an-
grenzend an den Park des Wittelsbacher Palais. In der Markuskirche hatte ich Konfirmanden-
unterricht, dort bin ich konfirmiert worden. Dort habe ich die Pfarrer gekannt, dort bin ich zum Gottesdienst gegangen, dort waren die Dienstbesprechungen mit den Dekanen und dort trifft sich seit 1974 der Arbeitskreis Ausländerfragen.

Seit 1980 bin ich der Beauftragte für Ausländerfragen des evangelischen Dekanats. Die ersten fünf Jahre waren eine konstruktive Zeit, ich habe einiges aufgebaut. Man schätzte mich als Fachmann, ich habe Vorträge gehalten, die Kirchenvorstände besucht, mich in die Problematik eingearbeitet.

Ich habe von Anfang an die Ausländerarbeit politisch verstanden. In meiner Dienstanweisung steht ein interessanter Satz: Ich hätte die Aufgabe, Gruppen und Kirchengemeinden auf die Not auf-
merksam zu machen und entsprechend bewusstseinsbildend und verändernd einzugreifen. Das habe ich gemacht und das war ja in der ersten Zeit auch gefragt. Da gab es ja die Entschließung der EKD, dass die Kirche eine gesellschaftsverändernde Kraft darstellen solle.

Aber plötzlich wurde das anders, die Kirche ist nur noch auf totalem Rückzug ins Innere. Ich bin auf einmal das enfant terrible, für viele gar ein Verrückter, der nicht mehr auf dem Boden des Evangeliums steht.

Dem Ruhwandl, dem Dekan, habe ich neulich gesagt: Für mich das Schlimmste ist, dass Sie die Bibel lesen und dass ich die Bibel lese und wir kommen zu ganz verschiedenen Nutzanwendungen. Der eine sagt: >Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!< und der andere liest heraus, dass die Kirche eine Kirche für andere zu sein hat.

Ich habe drei Schwerpunkte gesetzt: Erstens haben wir uns gefragt: Wie sieht es bei den Auslän-
dern zu Hause aus? Warum sind sie hergekommen? Wichtig für Informations- und Öffentlich-
keitsarbeit. Zweitens: Kontakte, Begegnungen auch mit nichtchristlichen Gruppen, Moslems zum Beispiel. Es gibt heute noch Türken, die mich >Vater der Türken< nennen, blöd, gell, aber das sagen sie halt. Drittens: Die Kirche muss eine Lobby entwickeln für Ausländer. Sie haben nämlich keine. Sie muss sich öffentlich zu Wort melden und Forderungen stellen: als Landeskirche, als Dekanatsbezirk, als Kirchengemeinde.

Und genau mit diesen Zielvorstellungen bin ich jetzt in der Kirche am Ende. Das will niemand mehr. Man hat sich inzwischen so stark mit dem Staat arrangiert, dass man alles, was der Staat
tut, und gerade im Bereich Ausländer, Flüchtlinge, Asylbewerber, da handelt er ja besonders un-
menschlich, dass man das als rechtsstaatlich betrachtet. Dass vielleicht hie und da Einwände laut werden, aber kein wirklicher Widerstand stattfindet. Das war nie die Stärke der Protestanten in Bayern. Weder im Dritten Reich noch heute.

Also, die Markuskirche ist für mich – und ich stelle sie mir immer noch vor mit dem alten, neu gotischen Turm, mit dem neuen bin ich nie warm geworden – zum Symbol einer Ausgrenzung geworden. Für mich steht jetzt die Markuskirche mit ihrem Dekanat für eine Kirche, die sich verabschiedet hat von der wirklichen Not der Menschen.

Wie ich so geworden bin? Der CVJM hat mich gelehrt, die Bibel >praktisch< zu lesen und im eigenen Leben Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich wurde von der radikalen Liebesbotschaft Jesu infiziert. Zum Schlüsselerlebnis wurde mir 1953 das Buch >Die Heiligen gehen in die Hölle< von Gilbert Gersbronn. Diese konsequente Solidarität der französischen Arbeiterpriester mit den Arbeitern, dieser Einsatz in der Fabrik, Schulter an Schulter, diese Anteilnahme am politischen Kampf, ihr Mit-Lieben, Mit-Leiden, Mit-Kämpfen bis fast zur Selbstzerstörung und schließlich dann ihr Ausgestoßen-Werden von der offiziellen Kirche hatte mich gepackt.

Wie es zu meiner zweiten Bekehrung, der politischen, kam? Das war 1968 in Nürnberg, ich war aktiv in der Friedensbewegung, im Kampf gegen die Berufsverbote, ich habe in Lehrlingsarbeits-
kreisen mitgemacht, ich habe viel Kommunisten kennengelernt. Tolle Leute! Und ich habe das problemlos auf die Reihe gekriegt mit meinem Glauben. Ich hatte eine Zeitlang einen Vietnamesen in meiner Wohnung versteckt, ich war Diskjockey in einer Cafeteria, in der sich die wildesten Leute trafen. Ich habe da keine Bibelstunden gehalten, einfach so, durch meinen Umgang mit ihnen, sie haben schon gewusst, dass ich Christ war und Diakon, habe ich ihnen anscheinend etwas vorge-
lebt, was sie nicht vergessen haben.

Sie treffen sich heute noch und vor zwei Jahren haben sie mich auch eingeladen. Da muss etwas auf fruchtbaren Boden gefallen sein.

In Nürnberg kam dann das Angebot, als Dekanatsbeauftragter für ausländische Arbeitnehmer nach München zu gehen. Ich bin dort so selbstbewusst aufgetreten wie nie zuvor: ich brauche also einen Haushalt, eine Sekretärin, ein gescheites Büro und vor allem eine gescheite Wohnung! Ich war nämlich inzwischen verheiratet, wir hatten drei Kinder. Ich habe alles bekommen und konnte anfangen zu arbeiten.

Meine Prägung kam vom Elternhaus, ich hatte ein sehr liebes Elternhaus. Vater und Mutter stammten zwar aus christlichen Häusern, aber eher formal christlichen und sie haben eine richtige Bekehrung erlebt. Das haben sie ihr Leben lang durchgehalten. Sie haben versucht, das Gebot der Liebe umzusetzen, obwohl mein Vater ein >alter Patriarch< war. Er hat ihr keinerlei Einblick in seine Finanzen gelassen, er war oft über Wochen beleidigt und sprach kein Wort mit ihr. Aber immer wieder haben sie sich zusammengesetzt, haben die Karten auf den Tisch gelegt und gesagt: >Wir stehen gemeinsam vor Gott.< Dann haben sie sich gegenseitig die Schuld vergeben, haben zusammen gebetet und dann ist es weiter gegangen. Eine großartige Geschichte, finde ich.

Ich war das älteste von vier Geschwistern und das schwächlichste. Ich war immer wieder krank, hatte Asthma, konnte nicht zur Schule gehen.

Wir wohnten in Ramersdorf, in der Mustersiedlung, die der Hitler gebaut hat und die nach Toten des 23er Putsches benannt war. Wir wohnten in der Bauriedlstraße, die nach dem Krieg in Bernau-
erstraße umbenannt wurde. Noch heute wohnt meine Schwester dort, die als Jugend- und Sozial-
arbeiterin arbeitete. Diese Siedlung gibt’s heute noch, sie steht unter Ensembleschutz. Das ist, wo’s in die Autobahn Salzburg geht, wo früher die Wendeschleife der Straßenbahn war, gegenüber von der Kirche. 19.000 Mark hat so ein Einfamilienhaus gekostet. Mein Vater war Beamter, bei der Polizei, hat 280 Mark verdient, ist dann zur SA und später als Verwaltungsoffizier zur Luftwaffe.
Er wollte auch einmal zur Gestapo, hat es dann aber doch nicht gemacht. Wie ich auch in eine der Nazi-Eliteschulen hätte gehen sollen, es dann aber doch nicht passierte. Letztlich war ihm das Christliche wichtiger als das Nationalsozialistische. Das kam sicher auch aus seinem Engagement für den CVJM.

Der CVJM war 1844 in London gegründet worden, YMCA1 , ursprünglich zur Betreuung herumir-
render Kaufleute. Neulich hat der Münchner CVJM 110jähriges Bestehen gefeiert. Er ist jetzt in der Landwehr- und war früher in der Glücksstraße, die heute zum Siemens-Areal gehört. Der CVJM grenzte an den Park des Wittelsbacher Palais.

Seit 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, lag die ganze Jugendarbeit der evangelischen Kirche in den Händen des CVJM. 1933 kam sie zur Hitlerjugend. Der CVJM existierte zwar noch, seine Jugend-
arbeit war aber in die HJ integriert. Das war nicht verwunderlich, weil der CVJM die Vorstellungen bündischer Jugendarbeit aufgenommen hatte, so mit Fahnen und Kluft und deutschnational aus-
gerichtet.

Ich entsinne mich heute noch voller Schaudern an Lieder, die wir damals als >Jungenschaftler< gesungen haben:

Heiß das Blut, das die Adern durchrauscht,
kalt der Wind, der das Fahnentuch bauscht,
heiß oder kalt, ja oder nein,
Sieger müssen bei Christus sein.

Dieser ganze Geist kam von den Gründern des CVJM, alten Militärs, aber bekehrten Christen. Das Nationale hat da immer eine große Rolle gespielt, obwohl ja der CVJM als weltweite Organisation angelegt war, überkonfessionell, ökumenisch, wo es darum ging, junge Menschen zu Jesus zu führen, sie zu bekehren, sie zu einer Veränderung ihres Lebens zu bringen. Das war neben dem deutschnationalen der missionarisch-pietistische Aspekt.

In diesem Denken bin ich groß geworden.

Die Eltern haben sich darauf beschränkt, uns Kinder biblisch-christlich zu erziehen. Jeden Tag in der Früh gab es die Hausandacht, wir haben gemeinsam gebetet und sind am Sonntag zum Gottes-
dienst nach St. Markus gegangen.

Über die Judenproblematik wurde nicht diskutiert, Hitler als Fügung Gottes betrachtet und die HJ war für junge Leute schon anziehend. Es war selbstverständlich, dass man hingegangen ist, man hat ja auch die Kluft gekriegt, Braunhemd, Riemen und Gürtel. Schon im März, April wurde mar-
schiert und es gab die großen Aufmärsche. Die Hitlerjungen in kurzen Hosen.

Und ich, kränkelndes Kind mit meinem Bronchialasthma, sollte nach dem Willen der Mutter die langen, warmen Strümpfe anziehen, die mit Strapsen an einem Leibchen befestigt waren. Das war für mich ein Horror, ich habe mich so furchtbar geniert, wenn die anderen mit ihren kurzen Hosen dahergekommen sind.

Mein Vater war Mitbegründer der Jugendabteilung des CVJM Neuhausen. Er ist immer noch zu den Versammlungen gegangen, wenn auch die Jugendarbeit von der HJ gekascht worden war.

Dort ist die Post abgegangen: Motor-HJ, Flieger-HJ, Marine-HJ. Und weil ja auch die Pfadfinder aufgelöst worden sind, sind all’ diese Erfahrungen in die HJ eingeflossen: wie Knoten gemacht, Geländespiele organisiert werden. Wie im Freien gekocht und gezeltet wird. Ich entsinne mich, der Krieg war schon ausgebrochen, da hat irgend einer die Idee gehabt: im Giesinger Glasscherben-
viertel, da wohnen doch die Juden! Das waren einfache jüdische Familien, und wir sind aufgebro-
chen, in Uniform, und haben denen die Fenster eingeschmissen. Das war wie ein Jungenstreich für uns, das war alles erlaubt. Und wir wussten nichts anderes, haben natürlich keine Fremdsender gehört. Wir führten uns auf wie Rocker. Auch nach dem Krieg. Da gab es die Banden, ich war bei den Ramersdorfern, der Ramersdorfer Blasn, und wir haben uns große Gefechte mit den Ober- und Untergiesingern geliefert. Für solche Schlägereien wirst du heute eingesperrt.

Wir hatten ein Lied, das >Münchner Buam< hieß und das ging so:

Müncher Buam samma und lass’n uns nix g’falln,
ja wenn’s uns a scho morg’n auf’n Gottesacker trag’n.
Drei und viere fürcht’ ma net, fünfe, sechse a no net,
neilich hamma zehne g’haut und alle Leit ham g’schaut.
In der Früh um fünfe schleich ma umanand,
Revolver in der Tasch’n, ’s Messer in der Hand.
Und wenn dann d’Leit uns frag’n, woher habt’s ihr die Kraft
Dann sag’n mir ganz einfach: von Bier und Gerstensaft.

So ähnlich jedenfalls hieß es, und man merkt, wie sich das eingeprägt hat.

Weil ich als Kind so oft krank war, war ich auch nicht gut in der Schule. Ich machte eine Gärtner-
lehre bis zur Gehilfenprüfung. Wollte aber unbedingt das Abitur nachmachen. Das habe ich nicht geschafft, da hat’s mich vorher derbröselt. Daher wahrscheinlich der antiakademische Virus, den ich in mir trage. Da habe ich eigentlich nur noch meinen Glauben gehabt und verspürte in mir den Ruf, in die kirchliche Arbeit zu gehen. Heute sehe ich das natürlich ein bisschen kritischer. 1955 bin ich jedenfalls nach Rummelsberg und habe mit meiner sechsjährigen Ausbildung als Diakon begonnen.

Bevor wir evakuiert wurden, die Mutter mit den Geschwistern nach Ruhpolding, ich mit der Klasse nach Garmisch, da hat es diese wahnsinnigen Bombenangriffe gegeben. Da hat eine Mine im Ne-
benhaus unser Dach abgedeckt. Und wir Buben, weil ja Flak überall herumgestanden ist, haben »geballert«, wenn wir am Himmel irgend etwas gesehen hatten. Da gab es die Riesenscheinwerfer, richtige Lichtarme, die den Himmel nachts nach Flugzeugen abgesucht haben. Nach jedem Flie-
geralarm haben wir Buben Bombensplitter gesucht, das war eine Rarität, und damit konnte man gut tauschen.

1945 war alles zu Ende und das große Verdrängen begann. Auch bei meinen Eltern. Mein Vater war bis 1947 als Kriegsgefangener in Kornwestheim interniert und danach entnazifiziert worden. Als meine Mutter mit uns wieder in unser Haus in Ramersdorf ziehen wollte, saßen da schon Leute drin. Wildfremde Leute, die sagten: »Ihr warts Nazi, euch gehört das Haus nicht mehr!« Die Mut-
ter hat uns gepackt und wir sind auf den Speicher gezogen: zwei Jahre lang haben wir zu fünft auf dem Speicher gewohnt. Unten hatten sich die anderen breitgemacht. Bis 1947 die Amerikaner kamen und die ganze Siedlung mit Stacheldraht einzäunten, die Leute rausschmissen, um ihre Offiziere hineinzusetzen. Bei Nacht und Nebel haben wir mit Bekannten einen Großteil unserer zerlegten Möbel durch den Stacheldraht gezogen und in die Kiesgrube geworfen. Von dort aus haben wir die Stücke dann auf einem Handwagerl weggefahren. Andere Möbel haben wir heimlich, unter Kohlen versteckt, in einem LKW abtransportiert.

Mein Vater hat durch einen Freund vom CVJM, der beim Landeskirchenrat – in der damals noch Arcisstraße – arbeitete, schräg gegenüber vom Verwaltungsbau der Nazis, dem heutigen Zentral-
institut für Kunstgeschichte, einen Arbeitsplatz gefunden. Er hat als Verwaltungsbeamter den Wiederaufbau des Landeskirchenrats geleitet und sich um die ganzen Liegenschaften gekümmert. Wir haben dort eine Wohnung gekriegt, im Hinterflügel des Erdgeschosses. Darüber hat der Landesbischof gewohnt, der Hans Meiser, nach dem dieser Teil der Arcisstraße dann benannt wurde.

Und da kommen wir jetzt zum Thema: Widerstand der Lutheraner in Bayern. Wo lange so getan wurde, als hätte es Widerstand gegeben. Die Bekennende Kirche, ja, Bonhoeffer, aber das war in Berlin. Oder Niemöller. Hier in Bayern, da ging’s nur ums Bekenntnis und dass die Kirche nicht zerschlagen wurde. Dafür waren sie dann zu jedem Kompromiss bereit. Da wurde sich mehr oder weniger durchlaviert. Oder sich angepasst. Oder lauthals mitgejubelt und den Führer in ihre Gebete eingeschlossen.

Nehmen wir einmal den Hans Meiser: 1933 wird er Nachfolger des evangelischen Kirchenpräsi-
denten. Schon bald ändert die Synode den >Präsidenten< in einen >Bischof<. Bereits vor dem Amtsantritt ruft Bischof Meiser die Pfarrer auf, Hitler von der Kanzel zu huldigen. Zu seiner Amtseinführung in Nürnberg gibt es einen Festzug mit SA, SS und Nazigrößen. Das >Horst-Wessel-Lied< wird angestimmt. Seit 1938 müssen Pfarrer einen Eid auf Hitler ablegen; 1939, zum Erntedankfest, bekommen die Pfarrer von Bischof Meiser eine >Kanzelabkündigung<, so nannte man das, zum Verkünden von der Kanzel während des Gottesdienstes, in der Gott gedankt wird für die >reiche Ernte< und den >schnellen Sieg der Waffen< in Polen. Da steht etwas von >uraltem deutschem Boden< und der >neuen Ordnung der Völker<. Gleichzeitig wird dem Führer und seinen Generälen gedankt für die >gewaltige Wende<.

Von Meiser kommt nicht wie von Theophil Wurm, seinem Amtsbruder in Baden-Württemberg, Protest gegen Euthanasie, Rassismus und Judenverfolgung. Wurm ist übrigens bis zum Ende des Dritten Reiches im Amt geblieben. Für Meiser war Dietrich Bonhoeffer, der im April 1945 von den Nazis ermordet wurde, kein christlicher Märtyrer, weil er ja aus >politischen Gründen< gehandelt hätte.

Auch nach 1945 blieb Meiser Landesbischof. Bis 1954. Als die Amerikaner von ihm eine Liste poli-
tisch verlässlicher Personen verlangen, befinden sich auf seiner Liste keine Sozialdemokraten oder Kommunisten. Da waren sich die Evangelischen und die Katholischen einig: keine Linken und keine Atheisten sollten in politisch verantwortungsvolle Positionen kommen. Außerdem war man gerade stark damit beschäftigt, die alten Nazis wieder zu rehabilitieren. Da passte eine demokra-
tische Erneuerung nicht richtig in den Kram. Für mich war dieser Landesbischof nichts anderes als ein Lakai Hitlers.

Oder nehmen wird den Theodor HeckeI: Der ist vom bayerischen Pfarrer hinaufgerutscht zur rechten Hand des Reichsbischofs Müller. 1934 wird er von Müller zum Leiter des kirchlichen Amtes für auswärtige Angelegenheiten berufen und zum Auslandsbischof ernannt. Er ist damit
der Chef für die Auslandskirchen und Vorgesetzter Dietrich Bonhoeffers. Bonhoeffer ist Pfarrer
in Berlin und sehr engagiert in der Betreuung von Auslandskirchen, im Knüpfen ökumenischer Kontakte, vor allem nach England. Er ist ein anerkannter Theologe, aber gefährlich für Heckel, weil es in seiner Hand lag, die evangelischen Gemeinden im Ausland über die wahre Lage der Kirchen in Nazi-Deutschland zu informieren. Heckel betreibt die Zwangseingliederung aller evangelisch-lutherischen und reformierten Landeskirchen in die Reichskirche. Er unterstützt den Arierparagraphen, will, dass er in die Reichskirche eingeführt wird. Er liegt voll auf der Linie der Judenpolitik der Nazis – und er diffamiert Bonhoeffer.

1934, in einem Schreiben an den ökumenischen Ausschuss, bezeichnet er ihn als >Pazifisten und Staatsfeind<, 1936 entzieht er ihm die theologische Lehrbefugnis. 1943 wird Bonhoeffer inhaftiert, verurteilt und im April 1945 von den Nazis ermordet. Er ist übrigens immer noch nicht rehabili-
tiert.2

Nach 1945 wird Heckel von Meiser rehabilitiert und 1950 als Dekan nach München berufen. Er führt seinen Bischof-Titel weiter. Er baut ein Hilfswerk auf für Kriegsgefangene, aber wohlgemerkt, nur für deutsche Kriegsgefangene. Er baut ein Bildungswerk auf, das Theodor-Heckel-Bildungs-
werk, aus dem das Evangelische Forum hervorgeht. In dem bis vor kurzem noch seine Büste zu bestaunen war.

Für mich ist dieser Heckel eindeutig ein Nazibischof.

Von Anfang bis zum Ende hat die offizielle Amtskirche zum faschistischen Staat gehalten. Auch heute noch macht sie sich zum Handlanger des Staates, der ihr die Kirchensteuer einzieht und der ohne ihre Sozialarbeit alt aussehen würde. Beide scheinen untrennbar miteinander verfilzt. Immer, wenn der Staat massiv auftrat, ist sie in die Knie gegangen. Sie scheut die Auseinandersetzung, sie hat keinen politischen Anspruch mehr, wie es in der Akademie Tutzing als Folge von ’68 formuliert worden war: als Erneuerung. Aber seit Mitte der 80er Jahre ist vieles wieder zurückgenommen worden. Die wirkliche Zerreißprobe wird die sein zwischen der traditionellen evangelischen Kirche und ihrer Hierarchie und den evangelikalen und charismatischen Gruppen, die bewusst die Tren-
nung von der Kirche anstreben. Diese Fundamentalisten wollen ein neues Wahlsystem in der Sy-
node einführen, dass die Synodalen direkt von den Gläubigen gewählt werden, nicht mehr von den Kirchenvorstehern. Da kann man sich dann vorstellen … also, die Massen, die sie mobilisieren können, da kann die Kirche nicht mit.

Wo gerade mal, wenn’s hochkommt, fünf Prozent der Gemeindemitglieder zum Gottesdienst gehen. Bei Kirchentagen ist das anders. Das sind Massenveranstaltungen, in denen hervorragende Dinge angeboten werden, wo man sich ein paar Tage in dieser protestantischen Atmosphäre aalt, sich auftankt, was mit nach Hause nimmt. Dann ist es aber auf einmal aus, der Strom versiegt, das Bachbett ist wieder trocken. Und es gibt fast keine Rückkoppelung in den Kirchengemeinden. Da werden meiner Meinung nach die Leute auch benutzt, obwohl die Kirchentage eigentlich aus einer Laienbewegung heraus entstanden sind, aus einem Aufbruch der Laien.

Inzwischen hat die verfasste Kirche das kritische Potential gedämpft oder eingeebnet.

Nach dem Krieg ist jedenfalls die CVJM-Jugendarbeit neu entstanden, aber nach altem Muster. Mit den alten Liedern. Die evangelische Kirche hat aber eine eigene Jugendarbeit aufgebaut, parallel dazu. Das war die >Junge Gemeinde<. Die waren immer ein bisschen offener als wir im CVJM, die machten Tanzabende mit Mädchen, das war bei uns verpönt, das war Sünde. Und erst die Onanie! Das hat einen schwer mitgenommen, und ich hab’ sogar einmal eine Beichte abgelegt, weil ich mir so Gewissensbisse mit der Onanie gemacht habe. Es war sexuell schon alles ziemlich verklemmt, obwohl ich eigentlich von zu Hause eine ganz gute Aufklärung mitbekommen habe.

Über die Nazis redete keiner mehr, die Amis waren da, und der Feind war der Kommunist. Und es ging aufwärts. Scheinbar unaufhaltsam. Das hat die Adenauer-Zeit in die Hirne geblasen. Wir als Sechzehn-, Siebzehnjährige trafen uns in der >Feuerburg<, dem Jugendheim des CVJM. Das wa-
ren die umgebauten Pferdeställe des inzwischen zerbombten Wittelsbacher Palais. Diese >Feuer-
burg< haben wir 1949 in Eigenarbeit gebaut. Und weil wir einen der Bäume vom Wittelsbacher Park nicht fällen durften, haben wir einfach einen Flügel des Hauses um den Baum herum gebaut. Was früher der Exerzierplatz war, das wurde unser Sportplatz, wo wir Handball und Fußball spielten, bis Ende der 50er Jahre.

Ich hatte einen Freund, den Sohn vom Sprudel-Pachmayr, bei dem war ich oft zu Hause, Ecke Türken-/Theresienstraße. In Wirtschaften sind wir nicht gegangen, das war Sünde, Tanzen und Wirtshaus gehen war alles Sünde. Es war ein sehr lustfeindliches Klima. Es gab zwar auch Mäd-
chen im CVJM, aber erst in den 60er Jahren nannte er sich offiziell in >Christlicher Verein junger Menschen< um. Es war halt ein traditioneller Jungmännerverein.

1955 bin ich in Rummelsberg, Mittelfranken eingetreten, um Diakon zu werden. Die Diakone sind in einer Brüderschaft zusammengeschlossen, der ich heute noch angehöre. Sechs Jahre Ausbil-
dung, zweiundvierzig Fächer studieren. Dabei kaserniert im Brüderhaus, Alkoholverbot und die Frauen waren >des Teufels<. Also nicht ganz, eher so: Frauen dürfen euch erst interessieren, wenn ihr mit der Ausbildung fertig seid. Wer vorher schon eine geschwängert hatte, wurde gnadenlos entlassen.

Kein Wunder, dass man sich da schwergetan hat mit Frauen. Man war vom CVJM geprägt: Du bekommst deine Frau eines Tages von Gott in den Weg gestellt! Du brauchst dich gar nicht darum zu kümmern.

Das habe ich dann doch getan. Ein befreundeter Kirchenmusiker sagte mir einmal bei einem Bier, als ich gerade verliebt war – und ich war öfter verliebt: >Also, wenn du glaubst, eine Frau kommt für dich in Frage, dann musst du aufs Ganze gehen!< Das hat mir sehr eingeleuchtet. Das habe ich dann auch mit meiner Frau getan. Die mir gleich ganz gut gefallen hat, weil sie nicht so g’spinnert wie die anderen war. Sie hat es mit mir nicht leicht gehabt. Nach eineinhalb Jahren haben wir uns verlobt, dann 1963 geheiratet. Da waren wir schon in Augsburg, wo unsere älteste Tochter geboren wurde. Ich war fest in der Jugendarbeit. Dann kam Weilheim, dann Nürnberg. Die wichtigste Zeit meiner zweiten Bekehrung. Meiner politischen Bekehrung.

Im Mai 1993 ereignete sich die Geschichte mit den Roma in Dachau. Zuerst war es eine Gruppe von 20 bis 25 Roma, die für begrenzte Zeit in der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau aufgenommen werden sollten, weil sie von Abschiebung bedroht waren. Das hatten Diakon Klentzan und Pfarrer Bauer beschlossen. Die Kirche hat es nicht überrissen, dass das ein wahnsin-
niges Politikum war. Sie haben das rein humanitär gesehen, wobei die Roma von Anfang an vor-
hatten, >Bleiberecht für Roma< zu fordern. Die Kirche ist wohl auch ein Stück überfahren worden, denn allmählich wurden es 80, dann 100, dann 150, die Wiedergutmachung forderten für das, was im Dritten Reich ihrem Volk angetan worden war. Sie campierten auf dem KZ-Gelände vor der evangelischen Versöhnungskirche. Das Bündnis gegen Rassismus hat ihre Forderungen aufgegrif-
fen, von Kirche und Presse wurden sie als sogenannte >Unterstützer und Chaoten< apostrophiert. Es kam zu Hungerstreik und Demonstrationen. Aber weil der Kirchentag 1993 ins Haus stand, hat man ihnen diese kleine Spielwiese für einige Zeit gelassen.

Zunächst war ich auf der Seite der verfassten Kirche, das war ja auch mein Job als Ausländerbe-
auftragter, aber als ich gemerkt habe, wie sich die Kirche leise zurückzuziehen begann, wie sie sich allmählich wieder in den loyalen Erfüllungsgehilfen des Staates verwandelte, habe ich mich voll mit den Roma solidarisiert, mit ihrem Widerstand, mit ihren Forderungen. Dann hat die Kirche mich fallengelassen. Totgeschwiegen, mir keine Informationen mehr zukommen lassen, kaltge-
stellt. Ich hab’ eine gewisse narrative Freiheit, ein Büro, eine Mitarbeiterin, ich lasse mir keinen Maulkorb umbinden, aber ich merke, ich passe nicht mehr ins Konzept. Sie warten nur darauf, dass ich endlich in Ruhestand gehe.

Die katholische Kirche hat sich bei der ganzen Romageschichte ziemlich bedeckt gehalten, die israelitische Kultusgemeinde hat sich voll mit der evangelischen Kirchenleitung abgesprochen.

Es ging hin und her, die Kirchenleitung war in ständigem Kontakt mit dem Innenministerium, Beckstein drohte: >Wenn sie nicht sofort abziehen, wird das Lager geräumt.< Da hat sich dann die Kirche auf die verschlagene, scheinheilige Einzelfallprüfung eingelassen. So ist sie über den Tisch gezogen worden.

Die Roma sind dann freiwillig abgezogen, nach Straßburg, zurück nach Württemberg. 150 Leute, die keine Chance hatten, dass sie nach dem neuen, verschärften Asylrecht würden bleiben dürfen. Sie sind inzwischen abgeschoben. Eine schlimme Sache. Die Kirche hat ihre Chance der Wieder-
gutmachung des Unrechts, was im Dritten Reich eben auch wegen ihres Schweigens entstehen konnte, nicht genutzt. Wenn sie sich voll dahinter gestellt hätte, hätte der Staat reagieren müssen. Aber nein! Sie sind wieder eingeknickt. Deshalb meine ich, die evangelische Kirche hat sich verab-
schiedet von der wirklichen Not der Menschen.

Wenn ich da an die Geschichte denke, die Jesus im Lukas-Evangelium erzählt; die Geschichte des Barmherzigen Samariters, meine Lieblingsgeschichte, eine Geschichte gegen Hochmut und Ras-
sismus: die Juden verachteten nämlich die Leute aus Samaria. Und ausgerechnet einer von denen, ein Samariter, hilft selbstlos und selbstverständlich einem Überfallenen. Daran sollten sie sich ein Beispiel nehmen und nicht einem Staat die Füße lecken, der die einfachsten Menschenrechte mit eben diesen Füßen tritt.

Werner Simon3

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1 Young Men’s Christian Association.

2 Was 1996 endlich geschieht!

3 Werner Simon, Ausländerbeauftragter des Dekanats bis 1996, stirbt 1997.


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 603 ff.

Überraschung

Jahr: 1993
Bereich: Religion

Referenzen