Materialien 1994

Unnötige Risiken

Nachfragen zum Garchinger Reaktorprojekt

In der letzten Mai-Woche ging der „Offene Brief“ von ca. 50 PhysikerInnen, die sich gegen die Verwendung von hochangereichertem Uran im geplanten Garchinger Forschungsreaktor (FRM-II) wandten, durch die bundesdeutsche Presse. Dennoch blieben insbesondere Fragen zur Notwendigkeit einer neuen „Neutronenquelle“ für die Wissenschaft, nach alternativen Möglichkeiten und aktuellem Bedarf in den Presseberichten unerwähnt. Wir wollten es genauer wissen und fragten daher einen der Unterzeichner, Prof. Dr. Hans Ackermann vom Fachbereich Physik der Marburger Universität.

Forum Wissenschaft:

Für den von Siemens und der TU München geplanten Forschungsreaktor FRM-II soll hochangereichertes, d.h. waffenfähiges Uran verwendet werden. Damit unterminiert man die weltweiten Bemühungen um Non-Proliferation von Kernwaffen. Gibt es für Forschungszwecke keine anderen Möglichkeiten, eine Neutronenquelle zu bekommen?

Hans Ackermann:

Es gäbe in der Tat andere Möglichkeiten eine Neutronenquelle zu bauen. Am naheliegendsten wäre es, den Forschungsreaktor mit niedrigangereichertem (ca. 20 % Gehalt an Uran-235) anstelle mit dem vorgesehenen hochangereicherten Uran zu betreiben. Das wäre sozusagen ein Standardverfahren. Bei gleicher Reaktorleistung müsste eine gewisse Reduzierung der Intensität der Neutronenstrahlen in Kauf genommen werden: Die Angaben schwanken zwischen 7 % und 26 % Einbuße. Wollte man jedoch dieselbe Neutronenintensität erreichen, so müsste man die Leistung des Reaktors um 35 % erhöhen, was mit einer gewissen Kostensteigerung verbunden wäre.

Eine mehr in die Zukunft weisende Alternative wäre es allerdings, anstelle eines Reaktors eine sogenannte Spallationsneutronenquelle anzustreben. Hier wird die Neutronenstrahlung durch die Zertrümmerung von schweren Kernen mit Hilfe eines hochenergetischen Protonenstrahls aus einem Teilchenbeschleuniger erzielt. Solche Quellen sind in USA, Japan und Großbritannien bereits in Betrieb. Sie haben den wissenschaftlichen Vorteil, dass außer Neutronen noch weitere für die Grundlagenforschung wichtige Teilchen, insbesondere Myonen, bereitgestellt werden können. Zur Zeit sind etwa 40 Wissenschaftler aus fünf europäischen Ländern damit beschäftigt, eine technische Studie über eine neue „Europäische Spallationsneutronenquelle“ (ESS) auszuarbeiten.

Forum Wissenschaft:

Für welche experimentellen Zwecke bzw. welche Forschungsgebiete und -fragen werden Neutronenquellen benötigt und genutzt?

Hans Ackermann:

Die Nutzung von Neutronenstrahlen in der Grundlagenforschung ist außerordentlich vielfältig. Am häufigsten wird die Neutronenstreuung zur Aufklärung von Strukturen und Bewegungsprozessen auf atomarer Skala in Kristallen, chemischen und biologischen Substanzen angewendet. Weitere Anwendungen betreffen die Spurenelementanalyse, wobei die Fragestellungen von der Archäologie bis hin zur Umweltanalytik reichen. Weitere Anwendungen betreffen die Durchleuchtung von Materialien mit Neutronen, oder die Materialmodifikation von Halbleitern durch Neutronenbestrahlung, sowie schließlich medizinische Anwendungen. Außerdem ist das Neutron selbst auch noch Objekt physikalischer Grundlagenforschung. An der Tatsache, dass Neutronen ein wichtiges Instrument für die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung darstellen, besteht kein Zweifel.

Forum Wissenschaft:

Weshalb wird dem Betrieb von Forschungsreaktoren mit hochangereichertem Uran eine so große Bedeutung hinsichtlich des Proliferationsrisikos zugeschrieben?

Hans Ackermann:

Außer für Forschungsreaktoren wurde im zivilen Bereich hochangereichertes Uran praktisch nur noch für den Betrieb von Hochtemperaturreaktoren benötigt. Diese Reaktortype ist inzwischen weltweit ausgestorben, so dass lediglich Forschungsreaktoren als zivile Nutzer von hochangereichertem Uran verbleiben. Daher gilt die simple Formel: Die Nutzung von hochangereichertem Uran in Forschungsreaktoren entscheidet über dessen Existenz im zivilen Bereich und die dort ansetzenden zahlreichen Proliferationsgrade. Hochangereichertes Uran ist das sicherheitsmäßig signifikanteste nukleare Waffenmaterial, da es von allen spaltbaren Materialien am wenigsten radioaktiv ist und mit geringer Strahlengefährdung gehandhabt werden kann. Ferner ist es zum Bau konstruktiv einfacher Sprengsätze geeignet, wobei die dazu nötigen Informationen in allgemein zugänglicher Literatur beschrieben sind. Durch Vermischen mit Natururan kann hochangereichertes Uran einfach und wirkungsvoll in nicht waffentaugliches Uran verwandelt werden, so dass keinerlei Notwendigkeit besteht, zum Abbau vorhandener Vorräte waffentauglichen Urans Forschungsreaktoren einzusetzen.

Forum Wissenschaft:

Werden die zur Zeit zur Verfügung stehenden Neutronenquellen für die Wissenschaft überhaupt entsprechend ihrer Möglichkeiten genutzt? Wenn nicht, welche Hindernisse gibt es, und welche Verbesserungen wären möglich?

Hans Ackermann:

In der Tat werden die bereits jetzt zur Verfügung stehenden Neutronenquellen nicht optimal genutzt. Die Gründe sind letztlich finanzieller Art. Am ärgerlichsten ist, dass die leistungsfähigste Neutronenquelle, der Höchstflussreaktor in Grenoble, nicht ausgelastet ist. So stellt z. B. das „Komitee Forschung mit Neutronen“ in seinem Memorandum vom Juni 1993 fest, dass bei diesem Reaktor die Mittel für die unerlässlichen Modernisierungsmaßnahmen des Instrumentenparks nicht mehr vorhanden seien. Ferner wird eine Zusatzfinanzierung durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) gefordert, damit Instrumente, die aus Geldmangel nicht mehr betreut werden können, wieder zu betreiben wären. Durch solche Maßnahmen, so heißt es in dem Memorandum weiter, könnten „brachliegende Kapazitäten für die Nutzer aus Deutschland“ erschlossen werden. Auch der deutsche Vizedirektor am Grenobler Reaktor beklagt, dass im Jahre 1995 das Budget im Vergleich zu 1990 um 17,5 Prozent reduziert sei, worauf das Institut mit einem massiven Stellenabbau reagiere. Auf jeden Fall wäre die volle Ausnutzung dieses von Deutschland, Frankreich und England gemeinsam betriebenen Reaktors wesentlich billiger und schneller durchzuführen als ein Neubau in München.

Ein weiterer kritischer Punkt ist der folgende: Die Experimente mit Neutronen werden traditionsgemäß vorzüglich durch das BMFT gefördert. Zur Zeit läuft die Antragsperiode für das Förderprogramm ab 1.4.1995. Insgesamt wurde von den Naturwissenschaftlern, die auf dem Gebiet „Erforschung kondensierter Materie an Großforschungsgeräten“ arbeiten, ein Betrag von ca. 97 Mio. DM beantragt, wogegen die vorgesehene Fördersumme sich nur in einer Höhe von ca. 28 Mio. DM bewegt. Ich sehe daher die realistische Gefahr, dass wegen der unzureichenden Förderung der Hochschulgruppen bereits die bestehenden Großforschungseinrichtungen – und dazu gehören insbesondere die Neutronenquellen – nicht mehr optimal ausgenutzt werden können.

Forum Wissenschaft:

Welche Dringlichkeit wird von den Befürwortern des FRM-II Konzeptes gesehen, dass dafür eine weltweite Erhöhung des Weiterverbreitungsrisikos von Kernwaffen und damit Gefährdung des Friedens gerechtfertigt wäre?

Hans Ackermann:

In der Tat fragt man sich, weshalb die Befürworter des FRM-II auf dem Einsatz von hochangereichertem Uran bestehen. Ich habe die Informationsschriften der Befürworter sorgfältig durchgelesen und kann kein einziges wissenschaftliches Forschungsprojekt finden, das den Betrieb mit hochangereichertem Uran erfordern würde. Das am häufigsten genannte Argument ist das der Kostensteigerung, sofern auf niedrigangereichertes Uran ausgewichen würde. Kostensteigerungen sind aber immer ein fragwürdiges Argument, hier aber ganz besonders, da bei einer zu befürchtenden späteren Nichtverfügbarkeit1 von hochangereichertem Uran die gesamten Bauinvestitionen in den Sand gesetzt wären. Teilweise findet man auch Argumente der Art, dass das Konzept des FRM-II für die zukünftige Entwicklung von Forschungsreaktoren richtungsweisend und auch „für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Nuklearindustrie auf dem Gebiet der Forschungsreaktoren von Bedeutung“ sei. Die Frage der Proliferation von waffentauglichem Material ist bei den Befürwortern bisher kein ernsthaftes Thema gewesen. Die Fragestellung wurde höchstens oberflächlich gestreift und mit abwiegelnden Bemerkungen abgetan.

Forum Wissenschaft:

Wären Rückschritte in der Forschung zu befürchten, wenn man sich die Zeit nähme, alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, bevor man außen- und sicherheitspolitische Risiken in Kauf nimmt?

Hans Ackermann:

Schwerwiegende Rückschritte in der Forschung befürchte ich nicht. Dies schon deshalb nicht, weil den deutschen Neutronenforschem grundsätzlich – man muss die Einschränkung machen, dass nicht immer alle Quellen verfügbar sind – etwa 15 Neutronenquellen zur Verfügung stehen, von denen sich 5 in Deutschland und weitere 7 in Europa befinden. Falls die Experimentatoren finanziell in die Lage versetzt werden, ihre Messungen durchzuführen, sollten wichtige Experimente auch die dazu nötigen Neutronenstrahlen finden.

Forum Wissenschaft:

_Wir danken für Ihre Auskünfte und wünschen den Bemühungen der Unterzeichnerinnen des „Offenen Briefs“ viel Erfolg.

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1 Nach einem Bericht der tageszeitung vom 26. Mai 1994 hat nicht nur die USA die Lieferung von hochangereichertem Uran für den Garchinger Forschungsreaktor entschieden abgelehnt. sondern auch Nachfragen in Moskau und Großbritannien blieben ohne Erfolg. Rußland hatte sich im Zusammenhang mit einem Urangeschäft mit den USA verpflichtet. kein hochangereichertes Uran an Drittländer zu verkaufen. Bezüglich der ca. 600-800 kg Brennstoff, die aus amerikanischen Beständen noch auf britischem Boden lagern, teilte der Britische Premierminister auf entsprechende Bitte der USA hin mit, die Uranvorräte stünden auch für die europäischen Partner nicht zur Verfügung. Frankreich soll ebenso verpflichtet werden, seine Vorräte an hochangereichertem Uran nur noch im eigenen Land zu verwenden.


Forum Wissenschaft. Hg. vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V. 2/1994, Marburg, 22 f.

Überraschung

Jahr: 1994
Bereich: Atomkraft

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