Materialien 1994

Anstiftung zur Zivilcourage

Zur Preisverleihung der Humanistischen Union für den „Aufrechten Gang“ an die Journalistin Helga Ballauf

Am 12. Dezember 1994 wurde der Preis „Aufrechter Gang“ der Humanistischen Union überreicht. Wir dokumentieren die Laudatio, die von MdL Sophie Rieger, Landesvorsitzende der HU Bayern, gehalten wurde (Mitautorin Erika Sanden). Es wurde eine „Fallschilderung“ zum Thema Verfassungsschutz.

Am 26. Mai 1989 wurde Bundesminister Hermann Höcherl in Regensburg beerdigt ein Staatsakt mit dem Bundespräsidenten, dem Bundeskanzler, dem bayerischen Ministerpräsidenten und vielen anderen hohen und honorigen Personen und Persönlichkeiten sowie einem Aufgebot von Medienvertretern.

Da stürzte die Associated-Press-Journalistin Helga Ballauf aus dem Pulk der Journalistinnen und Journalisten in die Einsamkeit der Bürgerin, die um ihre Menschen- und Bürgerrechte kämpft.

Was war geschehen? Durch einen Anruf vom Polizeipräsidium Niederbayern/Oberpfalz hatte sie erfahren, dass ihr die für die Teilnahme der Pressevertreter an dem Staatsakt notwendige Akkreditierung verweigert worden sei, denn es liege etwas gegen sie vor. Was? Der Polizeisprecher hatte natürlich keine Ahnung und verschanzte sich hinter dem flapsig flotten Spruch: „Erforschen Sie doch Ihr Gewissen!“

Mit der Frage: „Was liegt gegen mich vor?“ machte Helga Ballauf sich auf den Weg in die nur wenigen Einwohnern des Freistaates bekannten düsteren Regionen bayerischer Politik, wo sie fünf Jahre lang den Umgang von Innenministerium und Verfassungsschutz mit den Bürgern erleben durfte und reichlich Gelegenheit hatte, den „aufrechten Gang“ zu erproben.

Die erste Station war das Polizeipräsidium in der Ettstraße, wo sie freundliche Anteilnahme, aber nichts zur Sache erfuhr. Dann beantragte Helga Ballauf ein Führungszeugnis, das anstandslos ausgefertigt wurde und natürlich keine Eintragungen enthielt. Schließlich wandte sie sich an den Datenschutzbeauftragten Sebastian Oberhauser, der ihr nach zwei Monaten mitteilen ließ, er habe keine Verstöße gegen das Datenschutzrecht feststellen können. Weitergehende Auskünfte über Einzelheiten seiner Feststellungen seien ihm im Hinblick auf Art. 8, Abs. 2, Nr. 5, des Bayerischen Datenschutzgesetzes verwehrt. Dieser Artikel 8 in der damaligen Form besagte, dass einzelne keinen Anspruch auf Auskunft über die vom Verfassungsschutz über sie gespeicherten Daten haben.

Immerhin ein Lichtblick. Helga Ballauf war beim Verfassungsschutz gelandet.

Ihre Anstellung als feste freie Mitarbeiterin bei Associated Press war sie inzwischen los, weil sie nicht nachweisen konnte, bei allen Presseterminen problemlos einsetzbar zu sein. So hatte sie neben Existenzsorgen Zeit, der Spur nachzugehen.

Am 7. August erhielt sie vom Verfassungsschutz die Auskunft: Der Aufgabe, „Nachrichten über verfassungsfeindliche und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten“, könne das Amt nicht nachkommen, „wenn es jeweils nach Anfragen offen legen müsste, ob und welche Erkenntnisse vorliegen.“ Im speziellen Fall überwiege das öffentliche Interesse gegenüber dem informationellen Selbstbestimmungsrecht. Da sah sich eine biedere, gutwillige Bürgerin unseres demokratischen Staatswesens plötzlich als Verfassungsfeindin und politisches Sicherheitsrisiko etikettiert. Gar nicht einfach zu verkraften.

Immerhin stand die IG Medien hinter Helga Ballauf. In deren Zeitschrift „Publizistik und Kunst“ konnte sie ihre Erfahrungen darstellen. Für den Leser spannende Berichte, genau und subtil. Zur Klärung ihrer beruflichen Unbedenklichkeit erbat und erhielt Helga Ballauf Rechtshilfe der IG Medien.

Am 16. Oktober 1989 wurde die Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht eingereicht: Es sollte festgestellt werden, dass der Verfassungsschutz zu Unrecht relevante Bedenken gegen die Journalistin erhoben hatte, und das Gericht sollte verpflichtet werden, die gespeicherten Daten zu veröffentlichen.

Zwischen dem Einreichen der Klageschrift und dem Urteil vom 19. November 1992 vergingen gut drei Jahre. In solchem Zeitraum passiert sogar im normalen Leben einiges, erst recht in diesem Fall.

Drei Wochen nach Einreichen der Klageschrift wurde Helga Ballauf ins Innenministerium bestellt, wo sie Staatssekretär Dr. Beckstein wieder traf, den sie aus ihrer früheren Tätigkeit als Landtagsberichterstatterin kannte und seinen Ministerialdirigent Schwindel. Den Herren war die Sache irgendwie peinlich, denn man kannte sich ja, deshalb war man offenbar auch bestrebt, die Klage im Vorfeld zu erledigen.

Ergebnis dieser Unterredung war ein Schreiben des Innenministeriums am 16. November 1989, eine Art „Persilschein“. Es wird bestätigt, dass gegen Helga Ballauf „beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz … keine Erkenntnisse vorliegen, die jetzt oder in Zukunft geeignet wären, Sicherheitsbedenken hinsichtlich ihrer Teilnahme als Journalistin an Staatsakten zu begründen“. Die unter großem Zeitdruck im Mai 1989 abgegebene Wertung werde nicht aufrechterhalten. Sogar ein bescheidener Schadenersatz für den verlorenen Arbeitsplatz wurde ihr zuerkannt. Alles in allem eine Panne.

Damit war für Herrn Dr. Beckstein die Sache erledigt und damit schlug seine amtsübliche Jovialität um in Drohung: Einen Anspruch auf Auskunft über die gespeicherten Daten habe Helga Ballauf nicht. Sollte sie ihr Auskunftsrecht gerichtlich durchsetzen wollen, dann werde das Innenministerium durch alle Instanzen gehen. Denn wer wisse, was gespeichert sei, könne Rückschlüsse auf die Arbeitsweise der Dienste ziehen. Das gelte es zu verhindern.

Helga Ballauf wollte nach all den großen Worten verständlicherweise wissen, welche Daten der Verfassungsschutz über sie gespeichert hatte. Das wurde erst nach Änderung des Bayerischen Datenschutzgesetzes vom 1. November 1990 möglich. Im Artikel 11 ist vorgesehen, dass bei „besonderem Interesse“ das Landesamt für Verfassungsschutz nach „pflichtgemäßen Ermessen“ über die Erteilung einer Auskunft entscheiden kann. Im Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 1991 erkannte das Landesamt für Verfassungsschutz „das besondere Interesse der Klägerin an der Veröffentlichung der gespeicherten Daten an und übersandte ihrem Anwalt eine 9 Punkte umfassende Liste von „Erkenntnissen“.

Wie die Daten so nackt und dürftig in der Öffentlichkeit des Gerichtsurteils dastehen, wird man den Verdacht nicht los, dass die jahrelange Geheimniskrämerei des Innenministeriums allein dazu diente, die Bloßstellung dieser erbärmlichen Verfassungsschutz-„Recherchen“ zu verhindern. Sachlich sind diese „Erkenntnisse“ ein gefährliches Gemisch von offenbar bewussten Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Missverständnissen und Banalitäten.

Der Verfassungsschützer, der seit 1984 Helga Ballaufs diverse Vorträge besuchte und sie auch sonst zu überwachen hatte, war offenbar der Auffassung, dass sie der vom Verfassungsschutz beobachteten „Gruppe Internationaler Marxisten“ angehörte, nachdem sie am 4. November 1984 in den Räumen des GIM einen Vortrag über den Arbeitseinsatz einer GEW-Gruppe in Nicaragua berichtet hatte. Dass es sich um ein Projekt der GEW gehandelt hatte, ließ der Verfassungsschützer weg, ebenso die Tatsache, dass dieser Vortrag bereits mehrfach bei verschiedenen Organisationen gehalten worden war, u.a. an der Volkshochschule. Von ähnlicher Qualität sind auch die Recherchen über die Tätigkeit im Rahmen des ebenfalls vom Verfassungsschutz überwachten Nicaragua-Komitees. Der Inhalt der Vorträge spielte für den oder für die Verfassungsschützer überhaupt keine Rolle. Man hat den Eindruck, dieser Mensch sei auf bestimmte Stichworte programmiert und es klickte in seinem Hirn, wenn diese Stichworte fallen: GIM! Nicaragua-Komitee! = Linksextremismus-Verdacht! Daten speichern!

Das Verwaltungsgericht München hat sich mit seinem Urteil vom 19. November 1992 deutlich von derartigen Verfassungsschutz-Recherchen distanziert. Es hat sich die überzeugende Gegendarstellung von Helga Ballauf und ihres Anwaltes Gerd Tersteegen zu eigen gemacht, alle Vorwürfe irgendwelcher verfassungsfeindlicher Tätigkeiten entschieden zurückgewiesen und die Speicherung aller diesbezüglicher Daten für nicht rechtmäßig erklärt. Die Daten wurden ohnehin aufgrund des Datenschutzgesetzes nach fünf Jahren am 10. Juni 1992 gelöscht.

Ein Sieg des „Einmannbetriebs“ Bürgerin gegen den Freistaat? Schön wäre es!

Die Landesanwaltschaft ging in die Revision. Nochmals eineinhalb Jahre Ungewissheit für Helga Ballauf. Am 15. Juli 1994 erging das Urteil, das eine Revision nicht zulässt. Der 5. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes schloss sich der Version des Innenministeriums und der Landesanwaltschaft an, wonach das Landesamt für Verfassungsschutz nicht nur gegen die Verfassung gerichtete konkrete Tätigkeiten, sondern bereits verfassungsfeindliche „Bestrebungen“ zu beobachten habe. Daher seien alle Anhaltspunkte für mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen als Daten aufzunehmen: Nachdem die GIM und das Nicaragua-Komitee zu den vom Verfassungsschutz überwachten Organisationen gehörten, sei die Speicherung der Daten von Helga Ballauf rechtmäßig gewesen.

Also: Es können über jeden Bürger und Bürgerin alle möglichen Daten gespeichert werden, wenn er sich freimütig in einem Umfeld bewegt, in dem auch vom Verfassungsschutz observierte Gruppen arbeiten. Es reicht der Verdacht des Sachbearbeiters vom Verfassungsschutz.

Daraus ergibt sich die Frage: Was sind das für Leute, die auf Kosten der Bürger solche Recherchen anstellen und Existenzen vernichten können? Dieser Frage müssen wir als Abgeordnete dringend nachgehen. Es darf nicht sein, dass diese „Verfassungsschützer“ mit ihren leichtfertigen Recherchen weiterhin ihr Unwesen treiben und vom Innenministerium gedeckt werden. Natürlich ist es notwendig, diese Leute zur Verantwortung zu ziehen. Aber gerade wegen seiner Gefährlichkeit und vor allem wegen seiner offensichtlichen Unkontrollierbarkeit muss der Verfassungsschutz selbst abgeschafft werden. Das ist eine absolut vordringliche Aufgabe, für die wir uns auf allen Ebenen – auch im Landtag – einzusetzen haben …

Denken wir uns abschließend eine kleine Utopie:

Was wäre geschehen,

# wenn am 26. Mai 1989 alle Journalistenkolleginnen und -kollegen vom Friedhof zum Polizeipräsidium in Regensburg gezogen wären, um den Polizeipräsidenten zu fragen: „Was liegt gegen unsere Kollegin Helga Ballauf vor? Warum haben Sie ihr die Akkreditierung als Korrespondentin verweigert?“

# wenn alle Nachrichtenagenturen und Journalisten dem Bayerischen Innenminister per Fax, Telefon und Telegramm mit der Frage auf den Leib gerückt wären: „Warum haben Sie unserer Kollegin Helga Ballauf die Akkreditierung verweigert? Was liegt gegen sie vor?“

# wenn alle Münchner Kollegen und Kolleginnen von Presse, Rundfunk und Fernsehen sich zu einem friedlichen „sit in“ vor dem Innenministerium versammelt hätten um Auskunft zu verlangen?

# wenn die Medienvertreter, die Landtagsfraktionen um Landtagsanfragen gebeten hätten: „Was liegt gegen die Journalistin und langjährige Landtagsberichterstatterin Helga Ballauf vor, dass ihr die Akkreditierung anlässlich des Staatsaktes verweigert wurde?“

# wenn sie alle über ihre Aktivitäten für ihre Kollegin in Presse, Rundfunk und Fernsehen berichtet hätten …

Ob Helga Ballaufs Kampf mit dem Verfassungsschutz dann auch fünf Jahre gedauert hätte? Ob die Antwort des Innenministeriums dann nicht ganz anders ausgefallen wäre?

Hätte nicht die Kreativität einer ganzen Journalistenschar ausgereicht, das ganze Ausmaß der Absurdität von Bespitzelung und Verleumdung der Verfassungsschützer offen zu legen.

Der gemeinsame aufrechte Gang hätte probiert werden müssen! Das ist der Sinn unserer Preisverleihung: Anstiftung zur Zivilcourage von Anfang an und zum aufrechten Gang – wie es sich für einen Menschen gehört.


Mitteilungen der Humanistischen Union 149 vom März 1995, 15 f.

Überraschung

Jahr: 1994
Bereich: Bürgerrechte

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