Flusslandschaft 1994

Bürgerrechte

„Im Januar 1994 kam es im Rechts- und Geschäftsordnungsausschuss des Bayerischen Landtags zu einem gewaltigen Eklat. Justizminister Hermann Leeb rechtfertigte eine heftig umstrittene Durchsuchungsaktion bei der FDP-Abgeordneten Karin Hiersemenzel und ihrem Ehemann. Da ergriff plötzlich der frühere Innenstaatssekretär und Münchner Ex-Oberbürgermeister Erich Kiesl das Wort. Er warf dem Justizminister zu dessen Entsetzen vor, dass spezielle Teile von Staats-
anwaltschaft und Gerichten in Bayern sich ‚zu politischen Zwecken gebrauchen lassen oder miss-
braucht werden’. Dies sei gang und gäbe. Dem höchst erregten Justizminister, der ihn vergeblich zu stoppen versuchte, schleuderte er entgegen: ‚Ich bin in der Partei nicht mehr so gebunden, dass ich Rücksichten nehmen müsste.’ Erich Kiesl mochte seine Schwächen haben, es wurde damals gegen ihn wegen Falschaussage, Veruntreuung und Steuerhinterziehung ermittelt. Aber er wusste, was er sagte: Wie beispielsweise die Verfahren gegen Lothar Müller, Eduard Zwick und den Bayernkurier gelaufen waren, wusste er; er sah, welche Freiheiten Helmut Schmid/Elsid einge-
räumt wurden. Als ehemaliger Innenstaatssekretär wusste er aber noch einiges mehr. — Erich Kiesls Vorwurf des politischen Missbrauchs der Justiz bezog sich zwangsläufig auf den Justizmi-nister, den Ministerpräsidenten sowie auf die ausführenden Spitzenbeamten.“1

Am 2. April möchte Kriminalhauptkommissar Hans Brendel in der Ludwig-Maximilians-Universität am Geschwister-Scholl-Platz 1 zum Thema „Wirtschaftskriminalität in München – München im Filz von Bürokratie, Wirtschaft und Politik“ sprechen. Der Vortrag wird ihm vom Polizeipräsidium Oberbayern nach einer Intervention durch Generalstaatsanwalt Hermann Froschauer untersagt.2

Am 26. Mai durchsuchen Polizeibeamte die Wohnung einer freien Pressefotografin der Abendzeitung. Im Dezember 1993 waren nur mit Pelzen bekleidete Nackte durch die Münchner Innenstadt gelaufen. Die Staatsanwaltschaft sah hierin einen Verstoß gegen das Versammlungs-
gesetz. Die Fotografin beteuerte, dass weder Fotos noch Negative vorhanden seien. Tatsächlich wurde nichts gefunden. Beim Gehen drohen die Beamten, sie würden wieder kommen, sollte sich die Fotografin nicht grundsätzlich bereit erklären, mit dem Staatsschutz zusammenzuarbeiten.3

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S-Bahn-Wartehäuschen in Gräfelfing

„Preisverleihung „Aufrechter Gang“ an die Journalistin Helga Ballauf – Helga Ballauf, Journalistin in München, wird der Preis zuerkannt, weil sie nicht widerspruchslos hingenommen hat, dass ihr 1989 auf Grund einer geheim gehaltenen Auskunft des Bayer. Verfassungsschutzes die Zulassung zu einem Staatsakt verweigert wurde, über den sie berichten sollte. Dies führte dazu, dass sie ihren Arbeitsplatz verlor und ihre Tätigkeit als Journalistin nicht fortsetzen konnte. Sie hat Aufklärung verlangt und diese gegen große staatliche Widerstände erstritten. – Was dabei an ‚Erkenntnissen’ präsentiert wurde, stellte sich als Falschinformation heraus. So wurde sie als ‚Angehörige der Gruppe Internationaler Marxisten’ bezeichnet. Dabei war sie nur eingeladen, in den Räumen
der Gruppe einen Vortrag über Nicaragua zu halten. – Die Haltlosigkeit der Vorwürfe und die Rechtswidrigkeit des behördlichen Vorgehens wurde vor Gericht in erster Instanz festgestellt. Der bayerische Staat nahm das aber nicht hin, er focht erfolgreich das Urteil an mit der Begründung, dass Helga Ballauf ‚kein berechtigtes Interesse mehr, z.B. auf Rehabilitation’ besitze. Sie besteht aber darauf, dass der Staat gegenüber seinen Bürgern begangene Fehler auch eingestehen muss. Dies rührt in der Tat an das Grundverständnis demokratischen Staatsverhaltens. Die Humani-
stische Union drückt daher Helga Ballauf ihre Anerkennung aus für ihre Grundhaltung, mit der
sie ihren Anspruch an den Staat energisch vertritt. Wir sehen in ihr ein ermutigendes Beispiel von ‚Aufrechtem Gang’ für alle Bürgerinnen und Bürger. — Die Preisverleihung ist am Montag, 12. Dezember 1994, 19.30 Uhr, Seidlvilla, Nikolalplatz 1b. Die Laudation hält Sophie Rieger, MdL (Bündnis 90/Die Grünen) und Sprecherin des Landesverbandes Bayern der Humanistischen Union.“5


1 Wilhelm Schlötterer, Macht und Missbrauch. Franz Josef Strauß und seine Nachfolger. Aufzeichnungen eines Ministerialbeamten, Köln 2009, 325 f.

2 Siehe „Kriminalhauptkommissar Hans Brendel“ von Wilhelm Schlötterer und „Ohne Schmiergeld läuft nichts“ von Karl Stankiewitz.

3 Vgl. Hände weg von den Medien, hg. von der Fachgruppe Journalismus in der IG Medien, München 1995.

4 Foto © Volker Derlath

5 Mitteilungen der Humanistischen Union 148 vom Dezember 1994, 131. Siehe „Anstiftung zur Zivilcourage“ von Sophie Rieger.