Materialien 1994
Gewerkschaftliche Alternativen und Gegenstrategien
Dieser Beitrag wurde vom Info- und Aktionstelefon gegen Rassismus im Januar auf dem Rat-
schlag gegen Rechts des Münchner Bündnisses gegen Rassismus gehalten. Dort löste er heftige Kontroversen aus.
Bevor über diesen Punkt diskutiert werden kann, sollte der bewusstseinsmäßige und organisato-
rische Zustand der Gewerkschaften analysiert werden. Nur so können Fehleinschätzungen darüber vermieden werden, ob die Gewerkschaften für uns als handlungsfähige und -willige Bündnispart-nerin bei sozialen Auseinandersetzungen in Frage kommen. Entscheidend ist nicht, ob und wie wir uns die Gewerkschaften als eine relevante Gegenmacht in den antikapitalistischen, antipatriarcha-len und antirassistischen Kämpfen vorstellen können, sondern, ob sie objektiv dazu willens und in der Lage sind.
Schon im 1. DGB-Grundsatzprogramms von 1948 („Münchner Programm“) wurde das Privat-
eigentum an den Produktionsmitteln nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Mit der Verabschiedung des DGB-Grundsatzprogramms 1963 wurden die letzten programmatischen Aussagen, die an die Tradition der sozialistischen ArbeiterInnenbewegung erinnerten, gestrichen. Die Gewerkschafts-
politik veränderte sich immer mehr entlang der Vorstellung einer Interessensgemeinschaft von „Unternehmern“, Gewerkschaften und Staat. Konsequent war da nur ab 1967 die Teilnahme an der konzertierten Aktion. Dabei spielte die Stärkung der nationalen Ökonomie BRD gegenüber ande-
ren Ländern, insbesondere den USA, eine immer größere Rolle. So gesehen stellen die Diskussio-
nen in den verschiedenen Gewerkschaften zur Sicherung und Erhalt des Industriestandorts Deutschland nichts Neues dar. Der nationalistische Diskurs der meisten Gewerkschaftsvorsit-
zenden entspricht dem Bewusstsein des überwiegenden Teils der Organisierten. So etwa, wenn Steinkühler unter der Überschrift „Den Industriestandort zukunftsfähig machen!“ schreibt: „Mit der Überwindung des Systemkonfliktes im Jahre 1989 tritt eine andere Konkurrenz stärker in unser Bewusstsein. Es ist die Triaden-Konkurrenz zwischen den Industriestandorten USA, Japan und Europa [gemeint ist Deutschland].“ Und einige Zeilen später: „Die deutsche, ja europäische Gewerkschaftsbewegung steht für ein Arbeits- und Produktionsmodell, das die Würde des Men-
schen, seine Fähigkeiten und Kompetenzen in der Arbeit, seine Verantwortlichkeiten und Quali-
fikationen, seine Fähigkeit zu Kooperation und Konflikt, seine Bereitschaft zur Gestaltung in den Mittelpunkt des Arbeits- und Produktionsprozesses rückt.“1 Dieser national-kapitalistische Zu-
sammenhang wird von den Vorsitzenden der zwei größten Einzelgewerkschaften in der BRD als Aktionsprogramm vorgeschlagen und auch von der Mehrheit der IG-Metall und ÖTV-Mitglieder so vertreten und mitgetragen. Auch ihre Position ist die: Arbeitsplätze in Deutschland zuerst!
Für gesellschaftliche Alternativen jenseits kapitalistischer Verwertungslogik engagiert sich auch in den Gewerkschaften nur noch eine verschwindend geringe Minderheit. Auch hier hat Steinkühler auf dem IGM-Gewerkschaftstag im Oktober 1992 klar die Richtung angegeben: „Lasst die Hoff-
nung fahren, dass neben dem, was wir haben, und neben dem, mit dem wir uns herumschlagen, irgendetwas steht, was wir noch nicht kennen, aber was uns unseren Träumen und Hoffnungen näher bringt.“2 Bei der ÖTV werden ähnliche Debatten bis in den Jugendbereich geführt. Im ÖTV-Jugendbereich gibt es immer weniger Bezirke, in deren gesellschaftspolitischen Seminaren der Ge-
gensatz von Lohnarbeit und Kapital behandelt wird. Themen wie die Rechtsentwicklung in der BRD sind nur noch vereinzelt Seminar-Gegenstand, und auch da findet keine praktische Umset-
zung (= antirassistische und antifaschistische Arbeit vor Ort) statt.
Die ökonomischen Veränderungen im allgemeinen und die Krise seit 1991 im besonderen haben die „Handlungsfähigkeit“ der Gewerkschaften noch mehr eingeschränkt.
Gründe dafür sind
1.) die Verringerung der Arbeitskräfte in der Produktion aufgrund von Überproduktion und Über-
akkumulation. Reagiert wird von Kapitalseite mit der Intensivierung und Ausdehnung des Arbeits-
tages. Das Schlagwort lean-production verschaffte sich schon in den ersten Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen praktisch Geltung. So soll von 1993 bis 1996 bei Opel die Produktivität jährlich um zehn Prozent erhöht werden, die jetzt schon der besserer japanischer Autowerke ent-
spricht.3 Bei VW ist bis 1995 geplant, dass der break-even (Gewinnzone) von achtzig Prozent auf fünfundsechzig Prozent gesenkt wird. Das bedeutet, dass ab einer Kapazitätsauslastung von fünf-
undsechzig Prozent (was absoluten Krisenzeiten entspricht) Profite erzielt werden. Deshalb soll die Gruppenarbeit auf breiter Basis eingeführt werden. Mit mehreren tausend solcher Arbeitsgruppen will VW die Produktivitätsschübe verwirklichen, d.h. Personalkosten-Einsparungen für 1994 in Höhe von 2,2 Mrd. DM erreichen. Ziel ist nach VW-Personalchef Peter Hartz, dass in jeder Arbeits-
gruppe eine zusätzliche Unternehmerschaft geschaffen wird. Die Beschäftigten sollen Unterneh-
merfunktionen übernehmen.4 Bis 1998 ist geplant, dass im gesamten Konzern aufgrund durchge-
führter Flexibilisierungen Absatzschwankungen zwischen 3 und 5 Mio. abgefedert werden können. Gedacht wird an eine saisonale Anpassung der Arbeitszeit, die an Produktionszyklen gekoppelt ist. Im Frühjahr wäre eine 5 Tage-Woche, und im Herbst ein 3 Tage-Woche angesagt. Außerdem sollen die Pkw-Modelle so vereinheitlicht werden, dass eine gleichzeitige Produktion in allen Werken weltweit möglich ist.5 Dieses Produktionsmodell hat den Vorteil, dass Streiks in einem Land kei-
neswegs die Produktion verhindern könnten; dies ließe sich durch die weltweiten Produktions-
möglichkeiten sofort ausgleichen.
2.) Durch Vernichtung von Produktivkraft mittels Konkursen. In der BRD gab es 1993 20.000 Konkurse mit einer Vernichtung von 250.000 Arbeitsplätzen.
3.) Aufgrund des niedrigen Lohnniveaus durch die Verlagerung von Produktionsbereichen, die einen hohen Anteil lebendiger Arbeit erfordern z.B. nach Osteuropa (Polen, Tschechische Repu-
blik, Ungarn). So werden in Polen durchschnittlich 220,- DM, in der Tschechischen Republik 300,- DM und in Ungarn 403,- DM gezahlt.
Wir wollen kurz auf die Auswirkungen zurückkommen, die sich durch die flächendeckende Einfüh-
rung der Gruppenarbeit ergeben können. Beabsichtigt ist, daß die Gruppen sich den Standpunkt des Kapitals zu eigen machen und mit jeder anderen im Betrieb in Konkurrenz treten. Die Arbei-
terInnen besorgen jetzt das, wofür früher Meister bezahlt wurden. Wer dieses Konkurrenzverhält-
nis nicht mitmachen kann (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) oder nicht will, fliegt aus der Grup-
pe. Auch die IG-Metall steht der Gruppenarbeit positiv gegenüber, da diese „eine kreative Span-
nung erzeugt“6 und als Demokratisierung verstanden wird, da „über das Was und Wie der Arbeit, über die Arbeitsweise, über die Organisation der eigenen Arbeitsbeziehungen, der kollegialen Be-
ziehungen, … die Wahl der Arbeitszeitmodelle selbst entschieden wird. Die Beschäftigen treffen nur noch so etwas wie Verabredungen über Produktionsmenge und gewisse Produktionsmargen. Wie das gemacht wird, bleibt den Leuten selbst überlassen. Damit wächst ein selbstbewusste Be-
legschaft heran, die ihre weitere Entwicklung selbst in die Hand nehmen will …“7
Über Produktionsmengen werden nach wie vor ganz andere Personen im Betrieb/Konzern bestim-
men. Wie und mit wem sie die vorgegebenen Produktionszahlen erreichen, ist den ManagerInnen egal. Wer sich bewusst mit dieser Gruppenarbeit und der dadurch transportierten Ideologie iden-
tifiziert, braucht keine Gewerkschaft mehr, da sich ja auch ohne sie alles regeln lässt. Die derzeit laufenden „Tarifverhandlungen“ zwischen Gesamtmetall und IG Metall offenbaren die Handlungs-
unfähigkeit der Gewerkschaft. Jeder Kompromiss von der IG Metall veranlasst die Kapitalseite, noch eins draufzusatteln. Die IG Metall wäre bereit, die wöchentliche Arbeitszeit zwischen 30 und 36 Stunden ohne Lohnausgleich zu flexibilisieren. Die Kapitalseite will aber einen Korridor zwi-
schen 30 und 40 Stunden plus Kostenreduktion um ca. zehn Prozent. Je schwächer die Gewerk-
schaften werden, desto größer wird ihre Kompromissbereitschaft, wodurch sich die Zerfalls- und Auflösungserscheinungen immer mehr beschleunigen werden. Ein Gradmesser dafür sind die Ge-
werkschaftsaustritte.
Falsch wäre es, wenn linke GewerkschafterInnen weiter versuchen, den Apparat von innen zu ver-
ändern. Wichtiger ist, die Kräfte außerhalb der Gewerkschaften zu bündeln. Diskutiert werden müsste schon seit langem über eine alternative Form der Organisierung der Lohnabhängigen und potentiell Lohnabhängigen wie SchülerInnen, Erwerbslosen sowie Frauen und Männer, die Repro-
duktionsarbeit machen. Die Aufspaltung in Industriebereiche und die nationalistische Orientie-
rung müssen überwunden werden. Folgende Punkte wären hier zu beachten: selbstorganisiert, ohne Hierarchien, keinen FunktionärInnenapparat, offen für alle Lohnabhängigen oder potentiell Lohnabhängigen, die in einer antikapitalistischen, antirassistischen und antipatriarchalen Gesell-
schaft leben wollen.
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1 Franz Steinkühler, Soziale Einheit und gewerkschaftliche Zukunftsgestaltung, In: Gewerkschaftliche Monatshefte 10/92, 581.
2 Protokoll des 17. Gewerkschaftstages der IG Metall, 379.
3 Süddeutsche Zeitung vom 22/23.01.94.
4 Süddeutsche Zeitung vom 07.02.94.
5 Süddeutsche Zeitung vom 22/23.01.94.
6 Spezial Nr. 84, 21.
7 Spezial Nr. 84, 22.
Stadtratte 20 vom März/April 1994, 3.