Materialien 1995

Delikatessen. Neues aus der Metzgersgarderobe

Die schwere Holztür zur Thalkirchner Straße hin ist angelehnt, dahinter öffnet sich ein kleiner Hof, Mülltonnen in der Ecke, auf der gegenüberliegenden Seite ein paar Steinstufen und eine zweite schwere Holztüre. Dann der Treppenaufgang im Innern des alten Gemäuers und – es tun sich Abgründe auf: Ein endlos scheinender Gang im blendend weißen Licht vieler Neonröhren muss durchquert werden, eingerahmt von der angestaubten Pracht grüner Wandfliesen und Heizungsrohren an der Decke, ein grauer Metallspind in der Ecke rundet das Gesamtkunstwerk ab. Irgendwo am Ende scheint eine Tür zu sein, dahinter muss wohl die Metzgersgarderobe liegen. Tat sie auch. Doch jetzt baumeln keine Haken mehr von der Decke zum Aufhängen der blutverschmierten Arbeitskleidung, nur an heißen Tagen ist die Nähe zum Schlachthof nicht zu überriechen. Die Kacheln an den Wänden sind hier mit langweiliger Raufasertapete zugekleistert, die nicht mehr ganz so weiß ist wie in ihren ersten Tagen. Irgendwo brummt ein Getränkeautomat, an der Längsseite des Raumes sind Stühle und Tische aufgestapelt, die im Verein mit dem rotgefliesten Boden fatal an längst hinter sich geglaubte Pfarrgemeindesäle erinnern, keine Menschenseele ist zu sehen.

And you may ask yourselfWell … how did I   get there?
And you may ask yourselfAm I   fight? … Am I wrong?

Die schwere Holztür zur Thalkirchner Straße hin ist angelehnt, im kleinen Hof vor dem Treppenaufgang stehen ein paar Tische mit Kerzen, Fahrräder lehnen an den dunkelroten Ziegelwänden, die Mülltonnen im Eck stören niemanden. Dann der Treppenaufgang im Innern des alten Gemäuers und – der Gang ist einfach nicht schöner geworden. Gesprächsfetzen und Musik dringen durch die Tür an dessen Ende, 30 bis 40 Leute sitzen um die Tische, lehnen an der Theke und an den raufasertapezierten Wänden. Grüppchen unterschiedlichster Herkunft sind auszumachen, die offenkundig Wichtiges oder auch weniger Wichtiges zu besprechen haben, eine Runde gereifterer Damen und Herren pflegt gedanklichen Austausch bei mehreren Flaschen guten Weines und ansonsten wird der Küche des Hauses zugesprochen; die vertretene Altersspanne überstreicht immerhin einige Jahrzehnte. Der kahle Raum hat seine Hässlichkeit verloren, nicht nur durch die sparsame Dekoration, sondern vor allem durch die Leute selbst, die sich ihn für diesen Abend genommen haben. Die Atmosphäre ist eine andere als in einer, sagen wir mal, Szenekneipe: Es ist mehr Bewegung im Raum, die Leute hocken nicht so festgenagelt an ihren Tischen, im Umherdriften ergeben sich Gesprächskonstellationen, die so an einem anderen Ort eher mal unwahrscheinlich sind, der professionelle Anstrich einer Kneipe fehlt ganz einfach. Wenn die Köche des Abends nicht mit der Ausgabe der Essen nachkommen oder wenn die hinterm Tresen mal wieder die Reihenfolge der Bestellungen versandelt haben, dann ist das eben einfach so und nicht zu ändern, wozu soll mensch sich darüber aufregen? Das ganze Szenario strahlt etwas Improvisiertes, Vorläufiges und jederzeit Veränderbares aus.

Die Metamorphose vom kahlen Pfarrgemeindesaal zu einem einladenden Ort der Kommunikation muss jeden Donnerstag neu geschafft werden, das gelingt mal besser und mal schlechter. Doch der seit der Eröffnung im Juni ’94 gestiegene und inzwischen gefestigte Zuspruch der Leute, die das CAFE MARAT nutzen, scheint der Konzeption eines selbstbestimmten Raumes sozusagen im Herzen – oder vielleicht besser im Magen – der Metropole Recht zu geben. Der Reiz des Ortes hängt wohl nicht von der Zahl der Veranstaltungen und den offerierten Möglichkeiten zu Kurzweil und Vergnügungen ab, es genügt, dass es ihn in dieser Form überhaupt gibt. Ab und zu Konzerte und mal ein Film mit dazu passendem Essen und Trinken kommen gut, müssen aber nicht sein. Was genau in den Räumen des ehemaligen Tröpferlbades passiert, bestimmen die, die sie nutzen wollen, selbst. Arbeitstreffen von Initiativen aus dem Viertel und anderswo haben sich inzwischen etabliert, bei Konzerten kleinerer Bands macht sich eine angenehme Clubatmosphäre breit und richtig nett wird es dann, wenn ein kleines befreundetes Arbeitskollektiv aus dem Schlachthofviertel in einer Gemeinschaftsaktion einen ganzen MARAT-Abend bestreitet.

Auf der anderen Seite sind die äußeren Umstände der Nutzung, was etwa die vertragliche Absicherung durch das Kulturreferat betrifft, immer noch nicht ganz geklärt, die Hängepartie hat noch kein Ende gefunden. Doch durch das, was dort tatsächlich stattfindet, werden Pfosten eingeschlagen, die sich später so leicht nicht wieder entfernen lassen. Zeit, Schlacht und Raum – Verein für Kultur im Schlachthof e.V., der hinter dem ganzen Projekt „Tröpferlbad“ steht, ist zur Zeit bemüht, die Basis des „Tröpferlbads“ weiter zu verbreitern, ein Netzwerk der in München existierenden unabhängigen Cafés hat sich ja bereits konstituiert und mit einem gemeinsamen Fest in der Kulturstation zu Wort gemeldet, ein Programmblatt mit Beiträgen und Terminen der einzelnen Cafés ist im Umlauf. Die Zeit ist wohl nicht die schlechteste für derartige Unternehmungen, obwohl uns der vielstimmige Abgesang auf selbstbestimmte Strukturen noch in den Ohren klingt.

Es mag eingewendet werden, dass dem Projekt eine unmittelbare politische Ausrichtung fehlt, doch dagegen kann die Frage gestellt werden, ob denn die sozialen Bedürfnisse der Leute etwa nicht von politischer Relevanz sind. Wer sich aus Mangel an Gelegenheit oder passendem Umfeld in der Öffentlichkeit nicht mehr äußert und ganz auf seine private Umgebung zurückzieht, verlernt es schließlich völlig, in größeren sozialen Zusammenhängen zu agieren. Vielleicht kann dem durch solche Projekte wie das CAFE MARAT ein Riegel vorgeschoben werden. Eine Spielwiese ist jedenfalls eröffnet, von der ausgehend sich neue Strukturen und Zusammenhänge bilden können.

Andreas

Zeit, Schlacht & Raum und das CAFE MARAT sind donnerstags telefonisch unter 7460641 und allgemein per Fax unter 7460637 zu erreichen.


Stadtratte 25 vom Februar/März 1995, 1 ff.