Materialien 1995
Der sechste Hieb
Offener Brief – Oktoberfest ’95
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Ihr vierter Hieb beim diesjährigen Anzapfen soll ja überflüssig gewesen sein. Diente halt der Sicherheit. Und dass zur Feier des bayerischen Nationalrausches auch Ordnung herrsche, hat Sie dazu bewogen, die Zapfhähne der Wiesn und die Registrierkassen der Innenstadt gegen das auf fünf(!) Flugblättern angekündigte Gespenst einer Punker-Invasion zu schützen.
Das Jucken in den Fingern Ihrer rechten Kreisverwaltungshand ließ Sie ausholen zum fünften Hieb: Betretungsverbot für Punks im Gewande einer Allgemeinverfügung. „Punks, kauft nicht bei Münchner Wirten!“ – Ein solcher Appell verbat sich natürlich schon angesichts des angesprochenen Personenkreises.
„Münchner Geschäftsleute, die Punks sind Euer Verderben!“ Hätten Sie’s erwogen? Wohl ebenfalls nicht, da zu erinnerungsträchtig.
„Betretungsverbot für auswärtige Personen, die der Punk-Szene zuzurechnen sind.“ Klingt weniger anrüchig und meint doch das gleiche. Der Geruch der Ausgrenzung als parfümierter Hauch aus dem Rathaus. Filigranvollzug a la Ude an Personen, die der gewesene Kreisverwaltungsreferent Peter G. seinerzeit in brutaler Offenheit mindestens als „soziallästig“ bezeichnet hätte.
Doch dann: Kein Punker-Chaos am zweiten Wiesn-Samstag.
Am Tag danach traten Sie vor die Presse und sprachen die bis heute undementierten Worte: „Selbst von der Wiesn-Wache wurden nur 15 lumpige Punker zusammengekratzt.“ (Vgl. SZ Nr. 221, S. 34 vom 25.9.1995)
Dieser sechste Hieb treibt den Wechsel durchs Fass hindurch ins dahintergehaltene Wörterbuch des Unmenschen: Ozapft is! Wenn die Hatz vorbei, wird nach alter Jägertradition die erlegte Strecke verblasen – mit deutlichen Zeichen des Respekts vor der gejagten Kreatur. Kann sein, dass unter Kammerjägern das lumpige Ungeziefer ohne Zeremonie einfach zusammengekratzt wird …
Vielleicht war Ihr vierter Hieb überflüssig.
Der fünfte warf uns für ein Wochenende zurück in Metternichs Polizeistaat und wird als politischer Dammbruch Folgen haben.
Aber der sechste Hieb, Herr Oberbürgermeister, der sechste führt zurück in die Barbarei. Heute die Rotschöpfigen und morgen die Blauäugigen?
Mit freundlichem Gruß
Axel Kotonski
Preysingstraße 4
81667 München
27. September 1995
Haidhauser Nachrichten 11 vom November 1995, 2.