Materialien 1995

Wenn's dem bösen Nachbarn nicht gefällt

Der 12. Mai 1995 wird, soviel ist jetzt schon sicher, als historisches Datum in Bayerns Annalen eingehen, denn an diesem Tag war Revolution im Freistaat. Über 20.000 Münchner versammelten sich am Freitag Nachmittag auf dem Marienplatz vor dem Rathaus und demonstrierten gegen eine höchstrichterliche Entscheidung, die, wie könnte es in Bayern anders sein, natürlich mit Bier zu tun hat.

Die Angelegenheit ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, denn immer, wenn die Obrigkeit den Bayern ihre Freude am Bier verwässern will, riecht es nach Revolution. Bayerns Geschichte ist voll von Beispielen. Im Mai 1844 beispielsweise weigerten sich Soldaten beim „Maderbräu“ in München, den erhöhten Bierpreis zu zahlen, es kam zu den sogenannten Bockbierkrawallen, in deren Folge über hundert Personen verhaftet wurden. Und auch im Revolutionsjahr 1848 entzündete sich die Revolte der Bayern am Bier. Am 11. Oktober stürmten Studenten das „Pschorr-Bräuhaus“, weil die Maß statt bisher vier nunmehr fünf Kreuzer kosten sollte. Bei den Raufhändeln gab es sogar Schwerverletzte. Auch 1910 wütete wegen einer Preiserhöhung um zwei Pfennige der Volkszorn. Und das im ganzen Königreich. In Dorfen brannten zwei Brauereien nieder, Wirtsstuben wurden zertrümmert, überall fanden Protestmärsche statt.

Aktuell braut sich derzeit in München revolutionäre Stimmung wegen eines Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zusammen. In ihm bestimmen die hohen Richter ein auf neun Uhr abends vorgezogenes Ende des Ausschanks für einen der Münchner Traditionsbiergärten, die „Waldwirtschaft“ bei Pullach.

Die Anfänge der juristischen Auseinandersetzung datieren bereits über zwei Jahre zurück: Den Nachbarn der kurz „WaWi“ genannten Wirtschaft sind schon seit langem die Begleiterscheinungen fröhlicher Biergartengemütlichkeit ein Ärgernis: „Das geht ja bis Mitternacht – Autotürenschlagen, lautes Lachen, Singen, Rumgrölen, an- und abdonnernde Harleys, von den Spuren menschlicher Bedürfnisse in den Vorgärten gar nicht zu reden.“ Anrainer taten sich zusammen, zogen vor Gericht und durch die Instanzen: Das vor drei Wochen gefällte verwaltungsgerichtliche Urteil, gegen das keine Revision mehr möglich ist, paralysierte zuerst die Münchner Biergartenfreunde, bis dann der erste Schock mit ein paar Schluck hinuntergespült und Wutschaum wie Bierschaum hochstieg.

Seitdem gärt es um die Gerstensaftoasen. Übrigens sehr zur Freude der hiesigen Boulevardblätter, die über Tage hinweg mit fetten Schlagzeilen die Stimmung anheizten. Eskortiert wurde die Kampagne durch Unterschriftensammlungen, knapp 200.000 kamen zusammen, und den wiederholten Aufruf zur „Bierrevolution“. Sogar die Idee, die Biergärten unter Denkmalschutz zu stellen, wurde diskutiert.

Nach dem Urteil befürchten nun Beobachter der Biergartenszene eine Signalwirkung. Schon gibt es auch Klagen gegen die „Menterschwaige“, einen Traditionsgarten auf dem gegenüberliegenden Isarhochufer und in vergleichbarer Wohnlage. Und selbst gegen das Oktoberfest, so meldete die Abendzeitung entsetzt, wollen lärmgeplagte Anrainer der Theresienwiese vorgehen.

Auch Antje Haberl, die Wirtin vom „Taxisgarten“, mag gar nicht dran denken, was jetzt alles auf sie zukommen kann: „Das Urteil ist für mich schockierend. Wenn’s nur einem Nachbarn zu laut ist, kann er einen ganzen Biergarten kaputtmachen. Wahnsinn!“ Bislang konnte sie sich mit ihrer Nachbarschaft immer noch gütlich einigen, durch Verzicht auf Blasmusik und Steckerlfisch im „Taxisgarten“.

Nur Sepp Krätz, der unmittelbar betroffene „WaWi“-Wirt nimmt alles zumindest mit einer nach außen gelassen getragenen Bierruhe hin: „Wiss’n S’, was i mach’? Zuamacha dua i, wenn des mit dem Urteil so bleibt, denn draufzoin dua i ned.“ Doch noch gibt es einen Hoffnungsschimmer am Bierhorizont.

„Wir arbeiten bis zur letzten Minute an einer Einigung mit den „WaWi“-Nachbarn“, meint denn auch Richard Seifert, Anwalt der Spaten-Brauerei. Rettung könnte zudem aus Berlin kommen: „G’fall’n duad’s ma ned, die Idee, dass de Preiß’n unsere Biergärt’n rett’n miaß’n, aber wenn’s da Sach huift, meintweg’n“, philosophiert ein Stammgast der „WaWi“ in seinen Maßkrug. Er spekuliert auf das Bundesverwaltungsgericht, das über eine Nichtzulassungsbeschwerde von Brauerei und „WaWi“-Wirt gegen die nichtzugelassene Revision entscheiden müsste.

Mittlerweile überlegen Politiker auf allen Ebenen, wie durch Gesetzesänderungen das drohende Aus der Biergärten abzuwenden ist. Überhaupt steht die Politik von Grün bis Gelb und Rot bis rechts in einmütiger weißblauer Koalition – wenn das nicht allein schon eine halbe Revolution ist – hinter den Biergartlern. Theo Waigel beschwor auf dem Marienplatz, wie wichtig der Biergarten für seine eigene Biographie sei, schließlich habe er seine Frau unter Kastanien bei Bier und Brez’n kennengelernt. Derweil wetterte Bayerns SPD-Chefin Renate Schmidt am Mikrophon gen Bonn, die verstünden „zwar was vom Hochwasser, aber nichts von Biergärten“. Und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber erklärte den Biergartenstreit zur Staatssache: „Der Biergarten ist ein Stück bayerische Lebensart. Einzelinteressen dürfen grundsätzlich nicht zu Lasten des Gemeinwohls gehen.“

In der Staatskanzlei denken die Beamten über eine spezielle Biergarten-Sperrzeit-Klausel in der Gaststättenverordnung ebenso nach wie über eine Anpassung der Nachtruhe an die Sommerzeit; die gab es nämlich noch nicht, als das Immissionsschutzgesetz verabschiedet wurde. Doch bereits heute kann man schon ein erstes Resümee dieser jüngsten bayerischen Revolution ziehen: Sogar Politiker lernen aus der Geschichte. Denn Lektion I lautet für den Freistaat: Leg dich nie mit den Bayern wegen ihres Biers an.


Die Zeit 21/1995.

Überraschung

Jahr: 1995
Bereich: Lebensart

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