Materialien 1996

Der Blick in die Röhre

Der Schlachtenlärm um die Finanzierbarkeit von Tunnelbauten am Mittleren Ring überlagert die ruhige Überlegung. Die Probleme Münchens liegen jenseits der öffentlich geführten Diskussion, die in eine Sackgasse zu führen scheint. Es geht in Wirklichkeit darum, dass die Umschichtung von gewaltigen Geldsummen in den Autoverkehr eine vernünftige Entwicklung der Landeshaupt-
stadt behindert oder sie in der kommunalen Finanznot sogar ruiniert. Der soziale Frieden in der Stadt ist nachhaltig bedroht.

Das Ende der Kommunalpolitik

Dem vereinten Populismus von ADAC, CSU und ihrer Unterstützerszene (Auto- und Straßenbau) kann es mit einem gewonnenen Bürgerentscheid im Juni gelingen, die „freie Fahrt für freie Bür-
ger“ in den Rang höchster Priorität zu heben. Dann geraten die wesentlichen Fragen der Umwelt-, Gesundheits-, Sozial- und Kulturpolitik zur Nebensache. Der städtische Haushalt, bis hin zur Krise geprägt von Knappheit und Sparzwang, würde von den Ausgaben für die Tunnelröhren bestimmt sein. Diese Ausgaben überträfen in der mittelfristigen Finanzplanung die Haushaltsmittel für die U-Bahn und würden aufgeblasen zum gewichtigsten Posten für künftige Investitionen der Stadt.

Bisher lag der finanzielle Spielraum der Stadt für die Finanzierung freiwilliger Leistungen bereits bei nur cirka zehn Prozent des Haushaltsvolumens. Der Bund lädt nun den Kommunen mit den Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe neue Pflichten auf, während er ihnen mit Steuersenkungen für Unternehmen Einnahmen wegnimmt. Typisch münchnerische Projekte, zum Beispiel in der Bil-
dung (Gesamtschule, Orientierungsstufe), Kultur (Theaterförderung, Stadtteilkultur) oder Jugend-
arbeit (Feierwerk) sind ohnehin gefährdet. Mit den zusätzlichen Zahlungsverpflichtungen für die Röhre (ca. 50 Millionen Mark) würde der Finanzspielraum der Stadt auf unter ein Prozent der ver-
fügbaren Haushaltsmittel sinken. Damit wäre die Stadtratsarbeit reduziert auf die Verwaltung ge-
setzlicher Vorgaben.

Falsche Alternativen

Solide Haushaltsplanung ist der Blick über den Tag hinaus ist. Erstaunlicherweise hat die Öffent-
lichkeit – als Leidtragende eines kommunalen Finanzkollapses – bisher wenig Gelegenheit gehabt, über Alternativen zur Röhre nachzudenken.

Die „freie Fahrt“ fährt gegen Wände. Die Automanen sind Fundamentalisten. Sie verhalten sich eindimensional. Sie wollen die städtischen Aufgaben auf die Auto- und Straßenbau-Förderung konzentrieren und sparen bei den Armen, den Arbeitslosen, den Alten, den Jungen, den Sozial-
mietern, der Kultur und Erziehung, nur nicht bei sich selber. Für sie heißt Politik Auto- und Wirtschaftsförderung. Das kommunale Ganze ist für sie eine marginale Restmenge. Unter den Automanen sind Bürger, die nicht einmal wissen, dass auch die Zuschüsse des Freistaats aus ihrer Tasche kommen; mit ihren natürlichen Verbündeten unter der Autolobby ( eine peinliche Rolle spielt der ADAC) ist diese pressure group in der Lage, die Öffentlichkeit Münchens, wie zu besich-
tigen, zu hypnotisieren und auf AutoStraßenTunnel zu fixieren. So wird die Stadt München zu Tode stranguliert.

Die Gegner des Tunnelbaus sind aber auch nicht frei von Prinzipenreiterei: um das Problem an der Wurzel zu packen, soll innerstädtischer Autoverkehr durch die „sanfte Folter“ (Schwellen, Poller, Staus, Ampelschaltungen, usw.) be- und verhindert werden. Das Ziel der Reduzierung ist an sich vernünftig, doch nicht das Mittel, denn Politik heißt das Mögliche zu tun. Bringt sie keine konkre-
ten Angebote, insbesondere für die geplagten Anwohner des Rings, bleibt sie inhaltslos. Nun hat ein Gerichtsurteil die äußere Umfahrung Münchens (A 99) durchgesetzt, der Fernverkehr wird aus der Stadt gehalten. Es geht nur noch um die Frage: Was geschieht mit dem Mittleren Ring?

Das 3. Jahrtausend

soll München keinesfalls zur autogerechten, aber auch nicht zur Grünoase machen. Mit der Fixie-
rung auf falsch gestellte Alternativen ist der öffentlichen Wahrnehmung entgangen, dass am Mitt-
leren Ring aus logischen und planerischen Gründen Wohnungen und Häuser gebaut werden müs-
sen. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox. Seit Jahrzehnten geht der Trend des Wohnungs-
baus hinaus „auf die grüne Wiese“. Davon haben die Umlandgemeinden (der „Speckgürtel“) bisher profitiert und beträchtlichen Wohlstand angesammelt, während München an Lebenswert und Per-
spektive verliert und seine finanziellen und planerischen Potenzen an Denklöcher verschwendet. Das muss nicht sein.

Die Idee: Ringallee

Schwabing extra bringt auf seiner Mittelseite nachdrücklich den Plan einer Ringallee in die Diskus-
sion ein. Die Ringallee soll anstelle des heutigen Mittleren Rings entstehen. Um- und Neubauten sollen die Verkehrsemissionen erträglich machen – sämtliche Wohnungen sind an ruhigen Grün-
anlagen und Innenhöfen gelegen. An Knotenpunkten, z.B. Leopold- oder Schleißheimerstraße entstehen städtebauliche Schwerpunkte. Folge: München wird größer, bewohnbarer, schöner. Es bekommt eine Prägung, eine klare Gestalt an Orten, die von Leere, Phantasielosigkeit und dem Straßenverkehr geprägt waren. Die Ringallee ist als Angebot an die Anwohner gedacht, die bisher von Lärm und Abgasen geplagt wurden. Hinzu kommt: Die Ringallee rechnet sich, denn knappe Haushaltsmittel – Steuergelder – werden nicht vergraben, sondern in Stadtwohnungen und Ge-
werbebauten investiert!

Für uns bedeutet München immer auch einen gemeinsamen Lebensbereich von Klassen und Schichten, versteckter Armut und offenem Wohlstand, von kleinem und großem Theater, Kon-
zerten und Festen, von behäbiger Ruhe und großstädtischem Chaos, von harter Arbeit und Frei-
zeitspaß, Licht und viel Schatten. Ein Ringtunnel um München zerstört das delikate Gleichgewicht der Stadtgesellschaft und die gesamte Stadtgestalt. Die Ringallee kann die Lösung sein. Man muss sie nur wollen.

ep


Schwabing extra. Zeitung der Schwabinger Friedensinitiative 6/1996, 1.

Überraschung

Jahr: 1996
Bereich: Umwelt

Referenzen