Materialien 1998
klasse!
Zwei von der SchülerInnen-Initiative (SIM) plaudern mit uns über Streik, alltägliche Verweigerung und Jugend-Antifa.
Seit wann — und vor allem — warum gibt’s die SchülerInnen-Initiative München?
Die SIM ist entstanden, als bekannt wurde, dass das Kultusministerium eine Unternehmensberatung namens Kienbaum beauftragt hat, die Schulen auf ihre Wirtschaftlichkeit hin zu prüfen. Damals, im Sommer 1996, sind SchülerInnen aus fünfzehn Gymnasien zusammengekommen, um auf dieses Kienbaum-Gutachten zu reagieren. Dieser Zusammenschluss hat zum Streik aufgerufen, und erstaunlicherweise sind schon zur ersten Streikdemo 6.000 — 7.000 Schülerinnen gekommen, sind in unangemeldeten Demonstrationszügen zum Luisen-Gymnasium gezogen. Da es diese überwältigende Resonanz gab (wir hätten uns schon gefreut, wenn nur 1.000 gekommen wären), haben wir uns überlegt, die SIM zu gründen, auch deshalb, weil wir mit den SMV’s, zumindest von einigen Schulen, nicht zufrieden waren.
Was ist denn das ganz Andere an der SIM?
Die Idee war, von unten aus etwas aufzubauen und die SIM als übergreifende Koordination zu betrachten, die die Basisgruppen an den einzelnen Schulen miteinander verbindet. Jede Basisgruppe sollte spezifisch an der Schule arbeiten, aber auch allgemeine Themen wie Sozialabbau aufgreifen. Diese Struktur ist gescheitert, weil wir nicht genug Leute hatten. Heute ist die SIM eher ein loser Verband von Einzelpersonen, die allerdings immer mehr werden und sich wöchentlich treffen. Wir wollen aber erreichen, dass sich die Dinge mehr von der Basis aus entwickeln. Wenn die Leute an den Schulen nicht aus eigenem Bedürfnis auf die Straße gehen, hat alles keinen Sinn. Dazu müssen wir die Schülerinnen viel direkter ansprechen. Mit Papieren wie „Die Rolle der Schule im Kapitalismus“ kann niemand etwas anfangen.
Habt ihr den Eindruck, dass sich — vielleicht auch durch die Streiks — die Stimmung an den Schulen verändert hat?
Wir können eigentlich nur sagen, was wir erlebt haben: Beim ersten Streik am Gisela-Gymnasium sind zwanzig von 500 Schülerinnen noch in die Schule gegangen, beim zweiten Mal haben alle mitgemacht. Die fünfte Klasse zum Beispiel, die haben sich hingesetzt und gemeinsam beschlossen, dass sie streiken, statt die Schulaufgabe zu schreiben. Die untersten Klassenstufen, da sind überhaupt die meisten zu den Streiks hingegangen, das wäre früher vielleicht nicht so gewesen. Vielleicht liegt das daran, dass sie ein verändertes soziales Klima mitbekommen.
Was heißt denn „zum Streik hingehen“?
Na, die sind zu den Demos hingegangen, eben vor allem die ganz jungen, haben Transparente gesprüht: „Alte Lehrer stehen mit einem Fuß im Grab“, und fanden’s auch recht lustig, als dann die Farbeier ans Kultusministerium geflogen sind. Natürlich handelt es sich nicht um einen organisierten Widerstand gegen die Umverteilungspolitik oder um eine bewusste Kritik des Schulsystems. Aber es ist ein spontaner Protest gegen den Schulalltag und der Versuch, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Damit die Sache weitergeht, versuchen wir jetzt, die Leute direkt anzusprechen, auch ihre alltäglichen Probleme aufzugreifen. Das heißt, dass wir nicht nur die neuesten bildungspolitischen Verschärfungen aufgreifen, sondern auch das besprechen, was die Leute täglich erleben: Stress, Notendruck, uninteressanter Stoff, autoritäre Strukturen usw.
Passend zur Studentenrevolte ist ja das Phänomen der „repressiven Toleranz“ entdeckt worden: Mit der Kritik, die du äußerst, trägst du nur zum besseren Funktionieren des Systems bei. Vielleicht war das aber auch ein Wohlstandsphänomen: Damals konnte man sich Kritik und Abweichung einfach noch leisten. Habt Ihr den Eindruck, dass in der angespannten sozialen Situation von heute wieder eher repressiv auf Kritik reagiert wird?
Na ja, was die Lehrer angeht, muss man schon sehen, dass das Klima durch die Studentenrevolte einfach liberaler geworden ist. Ein übler Faschopauker hat heute nichts mehr zu melden. Auf der anderen Seite nehmen die autoritären Strukturen in den Schulen durchaus wieder zu. Aber das kommt eher vom Kultusministerium: Lehrpläne, steigende SchülerInnenzahlen usw., das verstärkt den Druck von oben. Insgesamt ist sicher die Tendenz zu integrieren geringer geworden, der repressive Charakter wird wieder offensichtlicher.
Auf zunehmenden Druck reagieren ja die meisten, indem sie sich noch konformer verhalten. Verweigerung wird dagegen eher schwieriger …
Der Widerstand ist immer existent, z.B. indem wir einfach blau machen. Allem, was einen Zwang bedeutet, entzieht man sich mehr oder minder von selbst. Man geht halt in den Englischen Garten und macht sich einen schönen Tag. Aber wenn man etwas ablehnt, hat man immer auch das Bedürfnis nach mehr. Marx hat ja auch gesagt: Die Flucht impliziert immer eine Kritik am Bestehenden …
Aber natürlich, wenn du das vereinzelt machst, kommst du nicht weit. Mich hat das z.B. die elfte Klasse gekostet. Ich hab mich der Schule entzogen, die Zwei-Drei-Tage-Woche für mich eingeführt, das gab natürlich Ärger mit der Klassenleiterin, die dann die Entschuldigungen haben wollte. Meine Antwort — in ihren Augen wahnsinnig plump — war dann: Ich find die Schule Scheiße und ich will über die Art, wie ich mich bilde, selbst verfügen. Die Aufgabe, die wir in der SIM sehen, besteht darin, für diese latente, sehr verbreitete Ablehnung der Schule eine organisierte Form zu finden.
Wie könnte denn so eine organisierte Kritik des Schulalltags aussehen?
Du kannst fragen: Bedeutet das Interesse an der Benotung wirklich ein Interesse am Stoff? Nein, du lernst nur für die Noten. Aus dieser Kritik kannst Du versuchen, eine andere Lernkonzeption zu entwickeln, die davon ausgeht, dass es Interessen gibt, die durch die Benotung und starre Hierarchie der Fächer und der Schultypen kaputt gemacht werden.
Ihr habt Eure Aktionen mit der Kritik des „Kienbaum-Gutachtens“ begonnen. Das ist doch eher eine recht entfernte Verwaltungsangelegenheit gewesen, die den Schulalltag nicht so sehr berührt. Wie kommt es, dass so schnell ein solcher Informationsstand da war und so viele das als besonderen Einschnitt empfunden haben?
Ich denke, da war schon vorher einige Unzufriedenheit da, und dann war dieses Gutachten eine gute Gelegenheit, die auch mal zu äußern. Aber wir haben natürlich auch gezeigt, was dieses Gutachten bedeutet, so dass für die Leute erfahrbar wurde, was es heißt, wenn die Schule nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert wird. Z.B., dass der Diff-Sport schon gekürzt wurde …
Diff-Sport, was ist das denn bitte?
Der differenzierte Sportunterricht. Das war so ein Sportnachmittag, den eh alle Scheiße fanden, aber es war natürlich ein gutes Beispiel für eine Tendenz. Im nächsten Jahr haben sich dann die Prognosen voll bestätigt und der ganze Wahlunterricht, zehn verschiedene Fächer, wurde einfach gestrichen.
Den Protest gegen die Kürzungen konnten die Eltern und Lehrer doch sicher auch mit tragen?
Klar, die Strafen für die Aktionen waren auch längst nicht so hart, wie man es sich vorstellen könnte. Und die Leute haben das auch mit ihren Eltern besprochen. Wenn die sich an ihr eigenes Abitur erinnern, merken sie ja auch, wie der Leistungsdruck angeheizt wird.
Stört das denn die Eltern, wenn der Leistungsdruck steigt?
Teilweise sind sie schon schockiert, wenn die Schule zur reinen Lernfabrik wird. Das ist etwas, worauf sie empört reagieren. Und außerdem müssen sie natürlich immer öfter Nachhilfestunden blechen. Für einige ist das wirklich nicht einfach. Natürlich gibt es für die Leute am Gymnasium immer noch Privilegien, aber es gibt auch viele, die den ökonomischen Druck schon spüren. Bei mir in der Schule gibt es immer mehr, die sich keine Nachhilfe leisten können. Vor allem spüren sie das Hetzklima, sie spüren die zunehmende Konkurrenz und sie merken, dass sie immer mehr gegeneinander ausgespielt werden. Das ist auch ein Grund, warum die ganze Sache aufgebrochen ist. Man spürt, was Abbau des Sozialstaats heißt. Man merkt - auch in München -, dass die soziale Realität immer weiter auseinander klafft: 3.000 Millionären stehen 300.000 Menschen gegenüber, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Und man hört, auch aus Frankreich, dass es so etwas geben kann wie eine SchülerInnenbewegung.
Wenn ihr z.B. gegen die Kürzungen an den Schulen protestiert, wie macht Ihr klar, dass es Euch nicht darum geht, das Geld bei der Arbeitslosenhilfe oder bei den Renten einzusparen?
Wir sehen uns als Teil einer allgemeinen Bewegung gegen den Sozialabbau, die versucht, den Leuten klar zu machen, was ihnen an Lebensstandard geraubt wird, und auf wessen Konto das geht. Wir wollen natürlich nicht, dass auf Kosten der Flüchtlinge oder der Arbeiter der Standard an den Schulen aufrechterhalten wird. Sondern wir versuchen zu zeigen, dass es einen Angriff gegen alle ökonomisch und sozial Schwachen gibt, und dass wir uns zusammen dagegen wehren müssen.
Bei sozialen Protesten ist doch der Gedanke der Solidarität gar nicht unbedingt das Nächstliegende. Oft handelt es sich ja um die pure Angst um die eigene Position: den Arbeitsplatz, den Ort in der Bildungshierarchie, in der sozialen Hackordnung …
Klar, die Mobilisierung geschieht meistens erst mal aus Ängsten. Die Leute merken, sie verlieren etwas, und dann geht es um Verteidigung. Da gibt es auch immer die Möglichkeit, dass es in die falsche Richtung läuft, z.B. wenn Studenten dann den Standort verteidigen wollen. Und außerdem sind wir natürlich nicht an den relevanten Stellen, z.B. Hauptschulen und Realschulen. Dort wird sich der Unmut noch krasser ausdrücken, aber dieser Unmut ist weitgehend von der Ausgrenzung ausländischer Menschen bestimmt. Wenn ich Leute von früher treffe, die jetzt auf der Hauptschule sind, sagen die z.B.: Ausländer sind schon ganz o.k., aber das sind mir zu viele, die da auf der Schule sind. Dort, wo die Leute wirklich das Gefühl haben, etwas zu verlieren, an den Haupt- und Realschulen, da tendieren sie eher nach rechts. Deshalb kommt es ganz wesentlich darauf an, dass die Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden, und dass nicht die einen gegen die anderen kämpfen. Ich glaube, das ist z.B. ein Unterschied zu den Kämpfen der 70er und 80er Jahre. Damals war alles vielleicht noch etwas utopischer, spielerischer. Heute sind die Kämpfe existentieller: nicht nur viel näher an der materiellen Grundlage, sondern auch, was die Gefahr angeht, dass alles nach rechts abrutscht.
Gibt es an den Schulen, die Ihr kennt, so etwas wie faschistische Mobilisierung?
An der Georg-Büchner-Realschule gab’s eine Clique von Neonazis, die SchülerInnen terrorisiert haben, die an die Wand gesprüht haben, „Willst du in die Büchner rein, musst du ein Heil-Hitler sein“; in der Rudolf-Diesel-Realschule in Neuhausen ist ein Kader der JN; bei uns am Gisela-Gymnasium wurde versucht, Flugblätter der NPD zu verteilen. Die Versuche gibt es, und ich denke, dass sie extremer sind in den Real- und Hauptschulen.
Gleichzeitig gibt’s ja einen erstaunlichen Zulauf bei der Jugend-Antifa …
Was Gegenkultur angeht oder „Bewegung“, ist in letzter Zeit schon einiges entstanden, vor allem im Antifa-Bereich. Z.B. die Zeitschriften Pro k und Antifa-Jugendinfo aus Laim, das in einer Auflage von 2.000 Stück erscheint. Das ist schon was, auch wenn es mir inhaltlich nicht gefällt. AA (Antifaschistische Aktion) oder AJF-ML (Antifa Jugendfront München-Laim), da lebt sich so ein Organisationskult aus. Man muss ihnen natürlich zugute halten, dass sie eine aktive Jugendarbeit machen.
Wovon sind denn die Leute bei den Antifa-Organisationsansätzen fasziniert — von der Analyse, die alles zu erklären vorgibt, oder von der Militanz und Radikalität?
Die Spekulation auf den Militanz-Chic geht doch völlig an der Realität vorbei. Hier zum Beispiel, in dem Heft, wo steht: „Nicht für Spießer!“, diese Überheblichkeit, die finde ich ganz falsch. Eine sterile und, was das Lebensgefühl angeht, völlig uninteressante Bewegung.
Apropos uninteressant, was müssen wir tun, damit die „hilfe“ auch schon von Schülerinnen gelesen wird?
Na ja, bis jetzt ist sie auf jeden Fall zu intellektualistisch und kommt zu speziell als „linke Zeitschrift“ daher, als dass sie die Leute ansprechen könnte. Aber ihr könnt ja noch üben.
fünfte hilfe. Die große europäische Sozialrevue, Sommer 1998, 23 ff.