Materialien 1999

Staatsbürgerschaftsrecht

„Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?“

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Jahrhundertelang kamen Menschen vieler Nationalitäten in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Hugenotten aus Frankreich besiedelten große Teile Brandenburgs und anderer protestantischer Fürstentümer. Waldenser aus Savoyen und dem Piemont fanden u.a. in Württemberg eine neue Heimat. Italienische Baumeister und Handwerker schufen Paläste, Kirchen und Bürgerhäuser entlang der großen Salzstraße von Tittmoning bis Passau. Polen vor allem aus den östlichen Provinzen Preußens wurden für den Aufbau der Schwerindustrie im Ruhrgebiet angeworben. Das sind nur einige wenige Beispiele. Natürlich sind diese Zuwanderer längst integriert (nicht ohne Widersprüche und Schwierigkeiten, die heute vergessen sind).

Als der Reichstag 1913 (gegen den heftigen Widerstand der damaligen SPD) die Abstammung von deutschem Blut (Jus sanguinis) zur Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft erklärte, war die deutsche Bevölkerung schon längst eine „durchmischte und durchrasste Gesellschaft“ (um es in den Worten des Herrn Stoiber zu sagen). Erkennbare Schäden hat dies den Menschen in Deutschland nicht zugefügt.

Ideologien pflegen sich leider nicht nach belegbaren historischen Tatsachen zu richten. Diffuse Ängste, Vorurteile und völkische Gesinnung gedeihen am besten auf dem Boden solider Unwissenheit. Das macht es Demagogen um so leichter solche dumpfen Gefühle, wie die Fiktion eines einheitlich von den alten Germanen abstammenden deutschen Volkes, für ihre Zwecke zu gebrauchen. Es macht es um so schwerer, mit rationalen Argumenten gegen solche Verhetzung vorzugehen.

CDU und vor allem CSU konnten nicht unbeträchtliche Teile der Bevölkerung gegen eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts mobilisieren. Die Aussage „Für Integration“ zu sein, ist pure Heuchelei. Den genannten Parteien war während der immerhin 16 Jahre ihrer Regierung die Integration von Einwanderern herzlich gleichgültig. Ebenso egal war ihnen die doppelte Staatsbürgerschaft bei Immigranten, von denen sie Sympathie für ihre Politik erwarteten. Immerhin 2 Millionen „Doppelpässe“ gibt es bereits. Katastrophale Auswirkungen, wie sie die christlich-reaktionäre Propaganda nun an die Wand malt, sind bisher niemandem aufgefallen.

Schäden für jede Gesellschaft entstehen, wenn Teile der ansässigen Bevölkerung von politischen Rechten ausgeschlossen werden. Von gesellschaftlichen Pflichten (z.B. der Steuerpflicht) wird natürlich niemand ausgenommen. Gesellschaftliche Diskriminierung von Einwanderern kann irrationale nationalistische Gefühle oder religiösen Fanatismus bei den Ausgegrenzten wecken oder verstärken. Das ist verständlich, aber es ist verderblich für die Erkenntnis gemeinsamer Interessen und die Entwicklung von Solidarität mit Menschen gleicher Klassenlage. Insofern kann die Politik der christlichen Parteien eine sich selbst erfüllende Prophezeiung werden: Je mehr die Einwanderer diskriminiert, schikaniert und benachteiligt werden, um so mehr könnten bei diesen ebenso irrationale Gefühle zunehmen und zu Auseinandersetzungen führen.

Davon profitieren am meisten rassistische und neofaschistische Gruppen, deren völkische Vorstellungen durch die Aktion einer großen Volkspartei legitimiert und deren Anhänger ermutigt werden.

Das neue Recht ist ein Fortschritt gegenüber dem „Abstammungsrecht“ – allerdings von Anfang an ein halbherziger Ansatz. Mit der weiteren Verwässerung durch Übernahme von FDP-Positionen wurde den Reaktionären und Rassisten zudem ein Erfolgserlebnis beschert. Sie werden das als Ermutigung zu weiterer Diskriminierung und zu noch mehr Verbrechen gegen Einwanderer verstehen.

Was ist zu tun? Freidenker sind auch hier in der Pflicht, gegen Intoleranz und Rassismus aufzutreten. Diskussion mit Einzelnen und Versuche zur. Überzeugung sind schwierig, langwierig und notwendig. Ebenso nötig ist es, in Zusammenarbeit mit Anderen eine sichtbare Gegenposition aufzubauen. Den Rassisten darf der öffentliche Raum, die Meinungsführerschaft, nicht allein überlassen werden.

Die Demonstration am 13. März war ein guter Anfang. Es ist wichtig, weiter zu machen.


Freidenkerinfo. DFV Ortsgruppe München vom Mai – August 1999, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1999
Bereich: AusländerInnen

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