Materialien 2001
Globalisierung - Nährboden von Armut und Terror
Rede von Conrad Schuhler am 22. September 2001 auf dem Odeonsplatz
Präsident Bush hat in seiner Rede vor dem Kongress die Welt vor die Alternative gestellt: Wer nicht für die USA und ihren Krieg gegen den Terrorismus ist, der steht an der Seite der Terroristen. Dies ist eine monströse Erpressung, der wir uns nicht beugen. Wir sind gegen den Terror, und ge-
rade weil wir gegen den Terror sind, sind wir auch gegen den Krieg der USA. Weil er den Terror nicht beseitigt oder zurückdrängt, sondern weil der Krieg den Terror multipliziert. Die militäri-
schen Überfalle der USA und der Nato werden überall auf der Welt – der US-Verteidigungsmini-
ster Rumsfield hat 60 Länder genannt, die angeblich Terrorgruppen allein von Bin Laden beher-
bergen – überall dort werden die US- und Nato-Militärs Tote, Zerstörung und Flüchtlinge und neuen Hass hinterlassen. Der Krieg wird den Terror nicht zerstören, er wird vielmehr Zehntau-
sende neue Rekruten für die Armeen des Terrors schaffen. Und deren Gegenschläge werden das zivile Leben in den Nato-Ländern zerstören. An die Stelle einer zivilen Gesellschaft treten polizei-
liche und militärische Kontrolle aller gesellschaftlichen Abläufe. Das tägliche Leben wird von Angst und Misstrauen geprägt. Kann ich diesen Flug nehmen? Zu meinem Arbeitsplatz im Hochhaus gehen? Ist die U-Bahn sicher, oder stimmt die Warnung vor Nervengas? Ist das Grundwasser ver-
giftet? Geht ein Flugzeug auf das Atomkraftwerk in der Region nieder? Das wäre unsere Zukunft, wenn sich die Strategie der US-Regierung durchsetzt, die auch die Linie der deutschen Regierung ist, denn sie hat bekanntlich ihre uneingeschränkte Solidarität mit den USA erklärt.
Zu einer solchen Zukunft, zu einer solchen globalen Katastrophe sagen wir Nein.
Doch wir sagen Ja zur wirklichen Zerschlagung der Struktur des Terrorismus, nämlich zu einem Angriff auf die wirklichen Ursachen des Terrorismus in der Welt. Worum es sich bei diesen Ursa-
chen handelt, wird schnell klar, wenn man sich einfach mal die Frage stellt, worauf das Interesse der USA und der Nato an den islamischen Ländern gründet. Geht es dabei etwa um die Verbrei-
tung der universalen Menschenrechte, der Demokratie, der „zivilisierten Welt“, wie die neue For-
mel lautet? In Wahrheit geht es um nichts anderes als um Erdöl und Erdgas, dessen größte Vor-
kommen unter der Erde der islamischen Länder liegen. Die ersten halbwegs freien Wahlen seit langem in Algerien hatten zu einem Sieg der islamischen Heilsfront geführt. Unter dem Beifall und der Mitwirkung der Nato-Länder übernahm sofort eine Militärdiktatur die Macht – Demokratie und Menschenrechte? Ägypten, der Lieblingspartner der USA, ist seit Jahrzehnten eine Militär-
diktatur – einziger Präsidentschaftskandidat ist seit einer Generation Mubarak, der jede Wahl mit 95 Prozent Mehrheit gewinnt – Demokratie und Menschenrechte? Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Oman, Bahrain sind reaktionäre feudale Regimes, aber die Freunde Ameri-
kas. Der Unterschied zwischen dem Regime der Taliban in Afghanistan und dem der Herrscher in Saudi-Arabien liegt nicht in der demokratischen Qualität, sondern bloß darin, ob sie den USA den Zugang zu Erdöl und Erdgas erleichtern oder erschweren. Dies gilt genau so für die Frage des Ter-
rorismus. Der angebliche Hauptverdächtige für die Terrorakte in den USA, Bin Laden, ist bekannt-
lich selbst von den USA als Terrorchef ausgebildet und ausgerüstet worden. Das war so lange guter Terror, als Bin Laden die Sowjets in Afghanistan bekämpfte. Jetzt, da Bin Laden dazu aufruft, den USA das islamische Öl zu entreißen, ist er ein böser Terrorist, und auch die Taliban müssen weg, denn die USA wollen die Pipelines des Erdgases kontrollieren, die von den zentralasiatischen Nachfolgern der Sowjetunion an das Arabische Meer geführt werden sollen.
Wir müssen die Propagandanebel vom Kampf der Kulturen und des Verbreitens universaler Men-
schenrechte zerteilen und erkennen die fürchterliche Wahrheit: Die Ursache des sozialen und politischen Elends in vielen islamischen Ländern ist die Komplizenschaft der reichen Länder mit den einheimischen Eliten, die skrupellos die Bodenschätze und Arbeitskräfte ausnützen und den Profit unter sich verteilen. Und wenn die Völker versuchen, diese Ausbeutung abzuschütteln, dann sehen sie sich der geballten Macht dieser Herrschaft gegenüber. Als der Iran in den 50er Jahren eine nationale Revolution durchführte, war es die CIA, die die Regierung Mossadegh wegputschte und dem Schah, diesem Lakaien der Ölkonzerne, auf seinen Thron zurück verhalf. Als Nasser und seine Bewegung Ägypten emanzipieren wollten, führten die Westmächte einen verheerenden Krieg gegen ihn.
Als mit den Palästinensern ein Volk antrat, das im Zeichen des Antiimperialismus einen eigenen Staat verlangte, wurde Israel zum Polizisten im Nahen Osten aufgerüstet, eine Atmosphäre von Terror und Gegenterror geschaffen, der Hunderttausenden das Leben kostete, ohne dass Ruhe einkehrte, nicht einmal die Friedhofsruhe, die die USA im Nahen Osten und jetzt offenbar global anstreben. Der Terror ist die schreckliche Folge einer imperialen Politik, die die Völker ausbeutet und ihnen gleichzeitig die Möglichkeit nehmen will, im eigenen Land andere politische Verhältnis-
se herzustellen.
Was für die islamische Welt gilt, trifft auch für die anderen armen Länder zu. Gegen Cuba, das nach jahrelangen Kämpfen den Diktator Batista überwinden konnte, organisierten die USA eine Invasion und, als die erfolglos blieb, einen Boykott, der das kubanische Volk an den Rand des Hungertods brachte. Als die Chilenen in freien Wahlen eine linke Regierung ins Amt brachten, die den ausländischen Konzernen ans Leder, das heißt an die Gewinne ging, organisierte und finan-
zierte die CIA einen Putsch, der Tausenden Demokraten das Leben kostete. Vor wenigen Wochen hat die Familie des von CIA-Terroristen ermordeten Generals Schneider Klage gegen den damali-
gen US-Außenminister Henry Kissinger erhoben. Seit Jahrzehnten und bis heute unterhalten die US-Geheimdienste sogenannte Todeskommandos, die systematisch Jagd machen auf demokra-
tische Politiker und Gewerkschafter in den Ländern Lateinamerikas, Asiens und Afrikas. Voller Stolz teilen Ex-Agenten von CIA und Mossad mit, dass sie dafür sorgten, dass 120.000 Mitglieder des ANC in Südafrika, darunter auch Nelson Mandela, in die Hände der Polizei des damaligen Apartheid-Staates fielen.
So befleckt von Blut und Schande sind diejenigen, die heute zu einem globalen Krieg gegen den Terror aufrufen. Sie wollen die ganze Welt zu einem Polizeistaat machen, weil sie fürchten, dass
sie anders ihr globales System der Ausbeutung nicht mehr aufrecht erhalten können. Während die 200 größten, transnationalen Konzerne bereits über ein Drittel des gesamten Weltprodukts auf sich vereinigen, lebt schon jeder vierte Erdenbürger an oder unter der Armutsgrenze. Alle drei Stunden verhungern mehr Menschen, als in New York den Attentaten zum Opfer fielen. Das Vermögen der drei reichsten US-Amerikaner ist größer als das jährliche Einkommen der 600 Millionen Einwohner der 48 ärmsten Länder. Die Annahme ist in der Tat berechtigt, dass der größere Teil der Menschheit auf Dauer nicht still halten wird, wenn Konzerne und Staaten der reichen Welt sie weiter in Armut und Repression halten wollen.
Die Reaktion darauf kann doch aber nicht sein, Militär und Geheimdienste stärker und effektiver machen zu wollen, um die Unterdrückung perfekter zu organisieren.
Die Antwort muss doch lauten: Wir wollen eine Welt, in der die Völker ihren Reichtum und ihre Arbeitskraft für die eigenen Bedürfnisse nutzen können. Wir wollen eine Welt, in der der techni-
sche Fortschritt allen zugute kommt und der internationale Warenaustausch nicht ständig zu fallenden Preisen für die Produkte der armen Länder führt.
Wir wollen, dass Kapital nicht wie heute zu 95% für weltweite Spekulationen, sondern ausschließ-
lich zu produktiven Zwecken eingesetzt wird.
Wir wollen, dass Länder und Nationen nicht wie heute als nationale Kampfgemeinschaften im internationalen Wettbewerb behandelt werden, wo alles dem Standortdenken der transnationalen Konzerne untergeordnet wird.
Gesellschaften sind keine Standorte von riesigen Profitmaschinen; Gesellschaften sind Lebensräu-
me für Menschen.
Statt einer Politik für den Maximalprofit, brauchen wir Toleranz und Solidarität.
Unter uns, und unter den Völkern.
Der israelische Publizist Uri Avnery hat die Aufgabe für uns alle nach dem 11. September zusam-
mengefasst:
„Es liegt in den Händen der USA – mehr als in denen irgendeines anderen Landes – die Quellen des Terrorismus zum Versiegen zu bringen, indem sie ihr Handeln darauf richten, die globalen Ungerechtigkeiten abzubauen. Die jetzige Antwort auf die Gewalt war niemals erfolgreich beim Kampf gegen den Terrorismus, wie die Geschichte Israels so klar zeigt. Wir müssen unseren politischen Führern helfen zu begreifen, dass nur Gerechtigkeit Frieden schaffen kann.“