Materialien 2002
Wir sind wirklich kurz vor dem Abgrund ...
Wecker:
… Wir sind wirklich kurz vor dem Abgrund: Wir sind nicht so toll, wie wir uns fühlen und wir brauchen, nur weil wir zum Mond geflogen sind oder weil wir ein paar Raketen ins Universum hinaufgeschickt haben, auch gar nicht so überheblich sein. Wir haben vielmehr kaum etwas ge-
schafft und zerstören die Erde am laufenden Band. Wir zerstören die Kinder durch die Erziehung; wir zerstören immer noch die Dritte Welt systematisch. Wir machen das alles, indem wir an der falschen Stelle Gelder ausgegeben. Man muss sich das mal vorstellen: Auf der Welt wird pro Tag eine Milliarde für Rüstung ausgegeben! Alleine damit wäre der Hunger auf der Welt besiegt, schlicht und einfach. Darüber macht sich niemand ernsthaft Gedanken. Nein, doch, man macht sich manchmal Gedanken darüber, aber diese Gedanken bleiben dann, wenn man so will, im luftleeren Raum, denn sie werden nie und nimmer in die Tat umgesetzt. Wir befinden uns also in einer Situation, in der wir dabei sind, uns auszurotten und die Erde zu vernichten. Das ist ganz einfach so. Ich glaube, dass das fast jeder zugibt: auch viele von diesen zynischen Leuten, die sa-
gen, „Lass uns hauptsächlich Spaß haben“. Selbst diese Menschen würden das zugeben, denn sie würden sagen: „Nun gut, dann ist es eben so, aber wir können dagegen sowieso nichts machen!“ Ich glaube vielmehr, dass man etwas dagegen tun kann. Man kann wirklich etwas dagegen tun: aber nicht, indem man als Mahner auftritt, sondern indem man das eigene Bewusstsein so schult, indem man sich so sehr damit konfrontiert, dass man all diese schrecklichen Dinge, die in unserer Gesellschaft passieren, so verinnerlicht, dass man sie wirklich spürt, und zwar so, wie man Hunger und Schmerz empfindet, dass man plötzlich lernt und spürt, dass wir verbunden sind mit allem, was lebt. Das war meines Erachtens immer schon auch die Aufgabe und die Chance der Künstler. Wenn ich mir heute wieder einmal Hermann Hesse durchlese, dann spüre ich immer wieder eine ganz bestimmte Grundsentenz bei ihm. Dies ist bei ihm auch dann der Fall, wenn er sich zur Poli-
tik äußert, was er freilich gar nicht so oft gemacht hat, wenngleich er ganz wunderbare und kerni-
ge Sätze auch hinsichtlich der Politik gesagt hat. Er sagt nämlich immer Folgendes: „Ich bin auf der Seite des menschlichen und nicht auf der Seite des politischen Denkens!“ Das menschliche Denken führt uns unweigerlich dazu, dass wir verbunden sind mit allem, was ist und mit allem, was lebt. Wenn wir dies richtig spüren, dann werden wir auch richtig handeln, davon bin ich überzeugt. Wenn wir das jedoch abtrennen, wenn wir das alles nur intellektuell wissen und nicht bereit sind, dies auch in unser Herz einzulassen, dann werden auch wir genauso zynisch handeln, wie zurzeit gehandelt wird. Was passiert denn momentan? Man ist wieder bereit, sein Weltbild in Gut und Böse aufzuteilen. Obwohl man doch gedacht hat, dass man genau das seit der Aufklärung über-
wunden hätte. Nein, nichts da. Dann passiert so etwas Schreckliches wie in Erfurt mit diesem ju-
gendlichen Amokläufer und alle machen sich kluge Gedanken darüber. Es gibt sicherlich eine Rei-
he von Gründen, warum so etwas passiert, aber ein Grund wurde kaum erwähnt: Dass es doch in einer Gesellschaft, die zurzeit wieder den Kampf gegen das „Böse“ als selbstverständlich empfin-
det, die zurzeit die Wiederbewaffnung als selbstverständlich empfindet, kein Wunder ist, dass irgendwelche fehlgeleiteten, irregeleiteten, neurotischen, psychotischen Jugendlichen auch ihren Krieg gegen den Terror führen wollen.
Loeckle:
So lange wir beide zurückdenken können, ist in den Sozialisierungsumgebungen, in denen wir bei-
de uns entwickelt und verändert haben und in denen wir vielleicht auch ein bisschen gewachsen sind – du zumindest -, immer von Sensibilisierung die Rede gewesen, von Steigerung der Kreativi-tät, von Gewaltlosigkeit usw. Dies hat eine Zeit lang auch ein bisschen was gebracht, letztlich hat das aber auch zur Spaßgesellschaft geführt. Nun sind wir erneut dort angekommen, wie du das soeben beschrieben hast. Möglicherweise ist das heute sogar einige Levels brutaler als je zuvor. Es gab damals ja auch diesen berühmten „Club of Rome“, der argumentativ versucht hat darzulegen, dass dann, wenn man sich ein wenig beschränkt und einiges ein bisschen reduziert, dies auch dazu beitragen würde, dass das Leben auf diesem Globus besser werden wird. Es wurden damals die Grenzen des Wachstums aufgezeigt. Es hat sich aber herausgestellt, dass das alles nicht funktio-niert. Es gibt nämlich Gegentheorien, die ihrerseits beweisen, dass es ein begrenztes Wachstum gar nicht geben kann. Wenn man sich aber mal diese unvorstellbare Verschwendung der Natur an-sieht, wenn man sich ansieht, was alle Jahre wieder im Frühjahr an Blüte, an Samen, an neuem Leben entsteht, dann fragt man sich manchmal schon, wofür das eigentlich entsteht. Wie denkst du, dass wir weiterhandeln sollen? Wir haben es ja miterlebt, wie es bisher gelaufen ist: Es reichte von einer Sensibilisierungsphase, die ja auch ein bisschen was gebracht hat, nun bis zu dieser neuen Gewalteskalation. Wie soll man da weitermachen? Soll man sich da larmoyant in die Ecke setzen und Däumchen drehen oder soll man weiterhin wie Konstantin Wecker versuchen, die Menschen aufzurütteln mit den Mitteln der Sprache, mit den Mitteln der Musik, mit moralischer Kompetenz?
Wecker:
Es geht gar nicht ums Aufrütteln, denn es geht meiner Meinung nach zuerst einmal um einen selbst. Ein politisches Engagement, das keinen dauernden Bezug zum eigenen Selbst hat, ist für die Katz’ und führt zweifellos in starre ideologische Haltungen: Dann wird es sogar gefährlich. Wenn man sich politisch engagiert oder wenn man politisch agitieren will, dann muss man also immer wieder die Rückfrage stellen, was in einem selbst in diesem Moment geschieht. Dies wurde auch 1968 bereits versucht. Hanns Dieter Hüsch hat einmal gesagt, „Faschismus beginnt in der Wohn-
küche.“ Er meinte damit, er beginnt im eigenen Herzen und dass man sich da selbst immer wieder befragen muss. Ebenso muss ich mich selbst, der ich die Gewaltlosigkeit propagiere, immer wieder fragen, wo denn bei mir die Gewalttätigkeiten verborgen sind. Ich glaube, die einzige Chance, die wir haben, besteht darin, dass man zuerst einmal in sich selbst hineingeht, dass man eine innere Arbeit leistet, dass man einen inneren Weg geht. Hier können uns die Erkenntnisse der heutigen Psychoanalyse sehr helfen. Hier können uns aber auch diese Jahrtausende alten spirituellen Tra-
ditionen helfen. Wenn ich mir z.B. den Buddhismus ansehe oder das nicht durch die Kirche in be-
stimmte Bahnen gelenkte Christentum, dann entdecke ich auch hier eine große Hilfe, die immer auch mit der Erforschung der eigenen Seele zu tun hat. Wenn ich also versuche, Gott in mir selbst zu suchen, dann werde ich diese „Höllenwege“, wie sie Herr Hesse so schön nennt – er spricht nämlich, glaube ich, irgendwo in einem Brief von diesem „Höllenweg zu mir selbst“ – alle in mir selbst entdecken. Erst dann kann ich genau aufgrund dieses Bewusstseins natürlich auch ganz anders nach außen handeln. Der zweite Punkt ist, dass wir ganz einfach eine völlig andere Erzie-
hung ansetzen müssen. Ich lasse niemals mehr einen Satz gelten wie: „Das hat ja bei mir auch nichts geschadet, das siehst du doch!“ Das ist dieser Satz, den man immer wieder im Zusammen-
hang mit Kindern hört, wenn man sagt, dass man die eigenen Kinder nicht mit Gewalt und Schlä-
gen erziehen will. Da hört man eben immer wieder von anderen Menschen diesen Satz: „Wieso, das hat doch bei mir auch nichts geschadet.“ Darauf kann ich nur die Antwort geben: „Das hat es an-
scheinend schon, denn schauen Sie sich doch bitte selbst einmal genau an!“ Wenn ich mir diese Gesellschaft so ansehe, dann hat alles geschadet, wie wir bis jetzt unsere Kinder erzogen haben. Es tut mir Leid, aber das muss wirklich völlig neu gemacht werden. Petra Kelly sagte einmal diesen wunderschönen Satz: „Ich will nicht die Welt verändern, ich will eine andere Welt!“ Sie hatte Recht! Auch ich möchte eine andere Welt, eine andere Gesellschaft, eine weniger blutrünstige Welt, eine weniger gierige, eine weniger verlogene Gesellschaft. Man muss sich das einmal vorstel-
len: Man schickt heute seine kleinen Kinder, diese wunderbaren kleinen Wesen, die so vertrauens-
würdig und vertrauensvoll und mit großen, wunderbaren Augen in die Welt hineinschreiten, in eine Gesellschaft hinein, in der alles nur noch um Lüge und um die eigene Bereicherung geht. Man geht irgendwo einkaufen und kann sich sicher sein, derjenige, der einem etwas verkauft, will einem nicht das Beste verkaufen, sondern will mit 99-prozentiger Sicherheit nur in seinen eigenen Geld-
beutel das Beste hineinschaffen. Das ist nun einmal so und wir leben nun in der Postmoderne. In diesem Zynismus der Postmoderne haben wir uns so sehr damit abgefunden, dass wir gesagt ha-
ben: „Na gut, das ist halt so, schauen wir halt, dass auch wir unsere Geschäfte dabei machen!“ Viel-
leicht muss man einfach mal einen Bruch machen, vielleicht muss man es wagen, eine Krise zu er-
leben, denn Krisis heißt ja Verwandlung. Ich habe jedenfalls eine Krise mit dieser Gesellschaft: Sie ist für mich nicht lebenswert. Sie bietet einem nicht die Möglichkeit, wirklich ein erfülltes, ein le-
bendiges Leben zu leben. Sie bietet mir vielleicht die Möglichkeit reich zu werden, das mag sein. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich darauf pfeife …
Konstantin Wecker, Liedermacher, im Gespräch mit Wolf Loeckle, Bayrisches Fernsehen, αForum, Sendung vom 30. September 2002, 20.15 Uhr.