Materialien 2003

„Soziale Frage“ - Welche Frage, welche Antworten

Ausarbeitung eines nicht gehaltenen Referats auf dem Münchner
„Spiel-ohne-Grenzen-Kongress“

„Wie kann man in Deutschland wieder die soziale Frage stellen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie völkisch beantwortet wird?“ räsoniert eine Schar Jungantideutscher in München auf dem Kongress „Spiel ohne Grenzen“. Es gibt Fragen, auf die kann es keine sinnvolle Antwort geben und mit der hier gestellten kann ich überhaupt nichts anfangen.

Einer radikalen Linken, den historischen Kommunisten und Anarchisten ging es nie um die „sozia-
le Frage“, denn es war die Frage der Herrschaft, der Bourgeoisie. Die „soziale Frage“ tauchte in Deutschland zum ersten Mal im Vormärz auf, also in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und war mit der sogenannten Pauperisierung verbunden, also dem Umstand, dass durch die Prozesse des sich durchsetzenden Kapitalismus Menschen ihre bisherigen Subsistenzgrundlage verloren haben und als „gefährliche Klassen“ in Revolten und Unruhen, aber auch in anderen Formen von Delinquenz auf diese Situation antworteten. Die soziale Frage wurde in dieser Situation von Bür-
gern gestellt, von Philantrophen und Bewahrern der bisherigen Ordnung. Die soziale Frage war also ein gegen-revolutionäres Projekt mit verschiedenen Antworten: die Armen sollen verschwin-
den, sagten alle diejenigen, die mit Malthus an der Überbevölkerungsthese festhielten. Andere hielten die christlichen Werte hoch und empfahlen bürgerliche Mäßigkeitsvereine, um gegen die Unbotmäßigkeit des Pöbels vorzugehen. Die „fortschrittlichsten“ Kräfte im bürgerlichen Lager setzten auf Besserung der Lage durch staatlich flankierte Industrialisierung, man könne ja den Pöbel zum produktionsstolzen Arbeiter erziehen, hofften sie, wobei sie immer auch die recht kleine Schar von Industriearbeitern in Deutschland als Teil der gefährlichen Klasse wahrnahmen.

Damals entstand ein Staats- und Kathedersozialismus, der von dem Faschismustheoretiker Franz Neumann folgendermaßen charakterisiert wurde: „Diese Männer versuchten, den sozialistischen Theorien vom Klassenkampf entgegenzuwirken, indem sie liberales politisches Denken zurück-
wiesen und ein staatskapitalistisches Modell entwarfen, das die Arbeiterklasse ‚eingliedern’ und das ganze Volk mit dem Geist seiner rassischen Überlegenheit durchdringen sollte.“

Das gegen-revolutionäre Erbe dieser Vormärz-Diskussion über die soziale Frage nahm Bismarck wieder auf und legte die Fundamente für den Sozialstaat. Es fand auch im Nationalsozialismus seinen Platz. Die soziale Frage ist also keine Frage, die von Kritikern der kapitalistischen Gesell-
schaft gestellt werden kann. Wer sie stellt, strebt eine staatliche Lösung an, bleibt an die Form des Nationalstaat gebunden und will die Ausbeutungsordnung sicherer machen. Auf diesem Feld haben Linke also nicht zu suchen.

Uns selbst stellen sich allerdings Fragen, über die wir gar nicht verhandeln können, ob wir sie denn stellen wollen oder nicht. Uns selbst stellt sich in zunehmendem Maße die Frage nach freier Zeit, nach angemessenem Einkommen, nach Jobmöglichkeiten. Viele Linke befinden sich in einer Situation, in der sie immer mehr oszillieren zwischen einem Zustand der zugespitzten Ausbeutung und Entfremdung (beispielsweise als Telefonistin im Call-Center) und der pseudo-individuellen und pseudo-kreativen, geistigen bzw. immateriellen Arbeit (als Job an der Uni, als Journalist, als Programmiererin oder in der Werbung, all die, für die ‚Empire’ halt geschrieben wurde).

Was für einen Aufschrei es doch gab, als der Historiker und linke Theoretiker Karl Heinz Roth Anfang der 90er Jahre eine Wiederkehr der Proletarität diagnostizierte und besonders die Linke
in einem raschen Proletarisierungsprozess verortete. Damals – es war kurz nach dem Mauerfall,
in der Zeit der Pogrome von Rostock und Hoyerswerda – hatte die Linke anderes zu tun. Beim Konstatieren des „rassistischen Konsens“ störte nur der Blick auf die eigene Reproduktion und
den Zustand des Kapitalismus. Zehn Jahre später fällt selbst dem hartgesottensten Gegner des ver-
meintlichen „Ökonomismus“ und dem größten Spötter über die soziale Fragen wälzende Linke auf, dass auch er und sein Freundes- und Genossinnenkreis sich in prekären Zeiten wiederfindet.

Es ist kein Zufall, dass sich die hiesige Linke am Beginn des 21. Jahrhunderts weit weg bewegt hat von den Erörterungen, wie man die gesellschaftlichen, also sozialen und materiellen Bedingungen, verändern könne. Auch ihre eigene Existenz ist ihr nur selten eine eingehende Reflexion wert.

Dabei fing alles ganz gut an und die Neue Linke in Deutschland war gar nicht so schlecht wie ihr Ruf. In den 50er Jahren gab es einige avantgardistische Zirkel, wie die an den Situationisten sich orientierenden Gruppe Spur, die in einer Zeit der eher drögen Reorganisierung einer Gewerk-
schaftsbewegung und einer reformistischen SPD-Hoffnung hervorstachen. Während rechte Philo-
sophen wie Schelsky von der „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ schwärmten, knurrte Adorno nur, dass die bürgerliche Soziologie die verlogene Leugnung der Klassen weiterbetreibe, die man von den Reformisten schon längst kenne. Nirgends wurde jedoch die verlogene Leugnung der Klassen so intensiv betrieben, wie in der deutschen Linken seit der 90er Jahre. Der Antirassis-
mus dachte nur noch in Opfer- und Täter-Kategorien, die antinationale und antideutsche Diskus-
sion blieb nationalstaatlich fixiert. Die Neuen Deutschen Wertkritik in den Spielarten der anti-
deutschen ISF, die immer nur vom vereinzelt einzelnen Bürger ausgeht, hat nun die Aufgabe übernommen, den Bürger vor dem Faschisten zu schützen; was in den Kreisen, die materialistische Kritik mit Völkerpsychologie verwechseln, heißt, den Ami vor dem Deutschen zu schützen. Die konkurrierende Spielart der NDW von der Krisis-Gruppe steht nur noch kopfschüttelnd daneben und versteht die Welt und die deutsch-antideutsche Linke nicht mehr. Dabei unterscheidet sich letztere in der Ausblendung des Klassencharakters dieser Gesellschaft nicht unwesentlich von der Krisis-Warenkritik ohne Klassenbegriff.

68 war man weiter. Inspiriert von einer globalen Bewegung (gegen den Krieg!), angefixt von marxistischer und freudianischer Literatur, die in Deutschland besonders verrufen war, und konfrontiert mit einer der statischsten und spießigsten Gesellschaften entstand in den 60er Jahren eine Revoltbewegung, die die bisherigen Verhältnisse gründlich zum Tanzen brachte. Die Funda-
mente der bisherigen Gesellschaft wurden unterhöhlt: Dem repressiven Leistungsprinzip, das auf Triebunterdrückung beruhte und in der patriarchalen Kernfamilie ihren institutionellen Ausdruck fand, wurde eine radikale Absage erteilt. Die formierte Gesellschaft wurde als in toto post-faschisti-
sche erkannt.

Ein Blick auf die Veröffentlichungen der damaligen Zeit macht klar: Damals ging es nicht um die vielbeschworene „soziale Frage“ sondern um den Klassenkampf, um Ausbeutung, um Kapitalis-
mus. Wichtig war hierfür, dass zwar die Kritik des Ganzen von der Kritischen Theorie aufgenom-
men wurde, dass aber mit Hans-Jürgen Krahl die Kritische Theorie und ihr theoretischer Pessi-
mismus überwunden wurde, dass der Marxsche Praxis-Begriff wiederentdeckt wurden und man sich an einem aktuellen Begriff von Klassenkampf versuchte.

Lange ging das leider nicht gut, der im Grunde offene Begriff wurden autoritär geschlossen und
ein Ticket-Denken griff um sich, das die Formierung von Rackets, den ML-Gruppen, begleitete.
In Deutschland war die 68er Bewegung in besonderem Maße eine studentische Bewegung, um so stärker nagte das schlechte Gewissen. Dieses sorgte auch für den moralischen Überschuss in der berechtigten Kritik der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, der sich im propagierten „Klassen-
verrat“ ausdrückte. Die antiautoritäre Phase der Revolte ging nicht einmal ein Jahr und schon ergingen sich die meisten antiautoritär Rebellierenden in der autoritären Posen des Proletkults. Und wie das bei einem Kult so ist, interessierte nicht mehr die Wirklichkeit, sondern es entstand eine sich selbst-tragende Ideologie. Diese fand im Neoleninismus ihren Ausdruck, der angereichert war mit völkischen Phrasen, die im besten Fall an der metropolitanen BRD-Gesellschaft vorbeiar-
gumentierte, im schlimmsten Fall eine eigenartige Komplizenschaft mit dem post-faschistischen Erbe Deutschlands anstrebte. Wie eine vorgreifende Kritik an diesen Absurditäten erscheint Adornos Schelte des linken Intellektuellen, dessen „Glorifizierung des prächtigen underdogs auf die des prächtigen Systems“ herauslaufe, das sie erst zum underdog gemacht hat. „Berechtigte Schuldgefühle derer, die von der physischen Arbeit ausgenommen sind, sollen nicht zur Ausrede werden für die ‚Idiotie des Landlebens’.“ Die Warnungen verklangen ungehört.

Doch mit dem Klassenverrat kam man auch nicht so weit, China und Albanien verloren an Attraktivität, die erbaulichen Urlaubs- und Erholungsorte sollten fortan wo anders liegen. Viele 68er nahmen den Weg von der „Anti-Elite“ zur „postmaterialistischen Wertelite“, wie der uner-
müdliche Leichenschänder der Revolte, Wolfgang Krausshaar, sich auszudrücken beliebt. Aber
es gibt auch andere. Einige die in ihrer Jugendzeit Mitglieder bei der völkischen Sekte KPD-AO waren, sind heutzutage beispielsweise Sektenführer sogenannter antideutscher Gruppen oder Initiativen und wittern nun überall die völkische Verschwörung.

Über diesen inneren Zerfallsprozess der Revolte, dessen Folgen wir heutzutage noch zu spüren bekommen, vergessen wir oft, was „68“ als weltweite Bewegung tatsächlich war: Es war der Kampf gegen das lebenslangen Arbeitsgefängnis eines „sicheren Arbeitsplatzes“. Es war die Aufkündigung des fordistisch-keynesianischen Sozialstaates, mit klarer Zuweisung der Geschlechterrolle, mit einem organisierendem Staat und einer das (männliche) Individuum total prägenden Arbeitsbio-
graphie. Das war eben nicht „Thematisierung der sozialen Frage“, sondern Klassenkampf.

Der Zusammenhang von keynesianischem Sozialstaat und Nationalsozialismus wurde durch
den antinazistischen und gleichzeitig antikapitalistischen Kern von 68 ins Bewusstsein gehoben. Und noch die ganzen Folgebewegungen und Erben dieses Aufbruchs wie die RAF oder auch auf subkultureller Ebene der Punk haben in ihren radikalsten Ausprägungen diesen Zusammenhang – keynesianischer Sozialstaat und NS – auf den Punkt gebracht. Dem „rheinischen Kapitalismus“, also der sozialstaatlichen Variante des Kapitalismus, ging es nie um die Arbeiterinnen, Arbeiter und Arbeitslosen, sondern um den sozialen Frieden und eine stabile Ausbeutungsordnung. Die neoliberale Konterrevolution der 70er und 80er Jahre, die in England unter Thatcher und in den USA unter Reagan die Räume autoritär schloss, die von der Bewegung der 60er Jahre geöffnet wurden, soll in Deutschland nun als nachholende Modernisierung durchgesetzt werden. Dass auch hier die Westbindung gelingen mag, dafür werden wieder antideutsche Fußtrupps Gewehr bei Fuß stehen, schließlich kennen sie wie Maggi Thatcher auch keine Gesellschaft, sondern nur Indivi-
duen.

Nicht von unten, sondern von oben wird gerade der Sozialstaat angegriffen. Wurde nach 68
seine repressive Seite von den Bewegungen ins Visier genommen, so wird diese nun ausgebaut.
Der Wunsch nach Autonomie taucht heutzutage warenförmig pervertiert als Strategie der Individualisierung wieder auf. Damit entstehen auch minimale Chancen: der in Deutschland immer noch nach Faschismus riechende Klassenkompromiss wird aufgekündigt. Es stellen sich aber um so mehr Probleme: die Verelendungstheorie von Marx, lange Zeit verspottet, bewahrheitet sich, doch die Möglichkeiten zur Revolution werden nicht besser. Es gibt kein zurück zum Libera-
lismus, an dessen Zustand Marx seine Begriffe entwickelte. Der naturwüchsige Zusammenhang von Wertgesetz und proletarischem Elend mag zurückkehren, nicht aber der zwingende Zusam-
menhang von Theorie und Praxis, von Zusammenbruch und Revolution, von Negation des Men-
schen im Kapitalismus und Negation der Verhältnisse in einer Umschlagsbewegung.

Ein weiteres Problem tut sich auf der Ebene der revolutionären Theorie auf. Kritische Theorie (von Adorno bis Marcuse), Situationismus (mit seiner Verbindung von Warenkritik, Rätekommunismus und Klassenkampf) und der historische Operaismus, all diese Theorien sind Theorie aus der fordi-
stisch-keynesianischen Phase. Die Kritischen Theorie ging von der Herrschaft des Monopolismus aus, des autoritären Staat und befand sich in dem Glauben, in einem nunmehr krisenfreien Kapitalismus zu leben. Auch die SI ging von einer Krisenfreiheit des Kapitalismus aus. Der Operaismus hatte seine starke Phase, als er versuchte die Kämpfe des sogenannten Massenarbei-
ters zu politisieren und zu theoretisieren (im Gegensatz zum Post-Operaismus, einer affirmativen Elite-Theorie, hatte der historische Operaismus immerhin den Anspruch kritisch zu sein). Der Operaismus blieb aber auf eine Theoretisierung der Kämpfe der Fabrikarbeiter am Fließband beschränkt und behauptete dann das Ende des Wertgesetzes und das bloße Herrschen eines Planstaats. Die radikalsten Theorien, aus denen wir schöpfen, sind demnach Theorien einer vergangenen Phase des Kapitalismus. Alles danach war ein halbierter Marx und Feuilleton.

Was tun? Das ist eine offene Frage, es ist auch keine Frage, die in einem sklavischen, zwingenden Verhältnis zur Theorie steht. Man kann sich von Theorie zur Aktion anstiften lassen, bestimmet Theorie törnt an, andere törnt ab. Die Frage des Tuns wird wo anders entschieden. Warum haben sich immer wieder Menschen erhoben und haben rebelliert? Wir wissen es und können es doch nicht adäquat darstellen. Der Bruch mit dem System ging bei der Jugendrevolte ab 80/81 auf der sozialen Ebene teilweise viel weiter als 68 und das ganze reichlich unreflektiert. Man besetzte Häuser, übte sich in gemeinsamem Einklauen und versuchte sich sogar in der Etablierung von „Volksbetten“, die wohl noch heute peinliche bis witzige Erinnerungen wach halten. Theoretisch wurde dagegen aus diesen Zusammenhängen wenig bleibendes produziert, die Erfahrung die hier gemacht wurden, sind bislang nur in Anekdoten aufgehoben, in einer Verklärung der „guten alten Zeiten“, die in dem Film „Was tun, wenn’s brennt“, eine adäquate filmische Übersetzung erfahren haben.

Als Anfang der Neunziger die Neue Deutsche Wertkritik der Krisis-Gruppe ganz realpolitisch getrimmt nach einem Politikfeld suchte, wo sie ihre Phraseologie vom Ende des Ware-Geld-Nexus anwenden wollte und plötzlich wieder besetzte Häuser dafür entdeckte, konnten andere nur müde schmunzeln. Denn zum einen waren die meisten Häuser schon geräumt und zum anderen gibt es einen praktischen Erfahrungsschatz, auf den es kritisch zu reflektieren gilt. Auf dem Hintergrund eines intakten Sozialstaates konnten all die linken Identitäten aufblühen, gegen die sich noch heutzutage die Gegen-Identitäten der antideutschen, wertkritischen und sonstigen Linken wenden: Autonome, Bewegungslinke, Antiimperialisten. Ohne Bafög, Sozi oder Arbeitslosenkohle hätte es die Ausflüge nach Wackersdorf oder zum Reagan-Besuch nach Berlin sicher nicht gegeben, ge-
schweige denn die vielen schönen besetzten Häuser mit den zuweilen weniger schönen Wandmale-
reien und Plakaten. Wäre aber alles besser gewesen, wenn die Aktivistinnen und Aktivisten statt autonomem Allerlei Krisis-Phrasen im Kopf gehabt hätten?

Mitte der 90er Jahre tauchte die theoretische Arbeitskritik wieder breiter auf, als die Bedingungen der Möglichkeit einer wirklichen Arbeitskritik schwanden. Die Krisis-Gruppe veröffentlichte das „Manifest gegen die Arbeit“ und verkündete, dass erst jetzt, mit Erscheinen ihres Manifests eine kategoriale Arbeitskritik möglich sei. Gut zu wissen, dass es davor vergebens war. Leider wurde aus dem „Erst-jetzt“ auch nur wieder ein „Vielleicht-später-mal“ – die materiellen Bedingungen einer tatsächlichen Arbeitskritik waren nämlich schlechter geworden als jemals davor. Und was nützen die richtigen Kategorien, wenn man mit einem Nummerschildchen in der Hand im Saal des örtli-
chen Arbeitsamts sitzt? Glücklichen Arbeitslosen gelang es zwar, ihre Artikel im Feuilleton des Organs der Großbourgeoisie zu plazieren, die weniger „kategorial“, dafür spritziger formuliert waren, die meisten Arbeitslosen machte das aber auch nicht glücklicher.

Doch das Ende der Fahnenstange war definitiv erreicht, als „Linke“ auftauchten, die die seit Seattle anrollende Antiglobalisierungsbewegung nicht als ein Feld der Kritik sehen wollte, der Kritik im Handgemenge, sondern sich in einer Phraseologie über „verkürzten Antikapitalismus“ ergingen und „Ideologiekritik“ propagierten ohne sie selbst betreiben zu können. Nicht selten wurden mal heimlich mal offen die Vorzüge des Individualismus gepriesen, und je weniger man selbst noch benennen konnte, was eine richtige Kritik des Kapitalismus oder auch der neuen Weltordnungs-
kriege sein könnte, gefiel man sich in versteckter oder offener Apologetik des Kapitals und seiner Kriege.

Es ist schon erstaunlich, dass heutzutage in der Linken, die sich in besonderem Maße aus Studenten und Leuten mit akademischem Abschluss zusammensetzt, so etwas wie „berechtigte Schuldgefühle derer, die von der physischen Arbeit ausgenommen sind“ – wie Adorno es formulierte – nicht auftauchen. War die K-Gruppen-Linke eine populistische Elite, die sich dem kleinen Mann andienen wollte, so ist die 90er Jahre-Linke eine zynische Elite voller Verachtung für den „dumpfen, deutschen Bauarbeiter“ – ein ähnlicher Pappkamerad wie der verblichene „klassenbewusste Proletarier“ der 70er. Wenn wir uns aber die Frage stellen wollen, mit wem wir überhaupt über Veränderungsperspektiven diskutieren wollen, dann scheint diese zur Selbstre-
flexion unfähige, zynische Elite-Linke nicht der richtige Ansprechpartner zu sein, sondern eher jene, die tatsächlich auch ein materiellen Bedürfnis verspüren, diese Verhältnisse abzuschaffen, weil diese ihnen nur „no future“ offerieren oder sie als denkende und fühlende Menschen beleidigen.

Damit es besser, also ganz anders wird, dafür braucht man eine Menge Leute, keine Masse, aber zumindest eine kritische Masse. Wie wäre es mit dem Vorschlag, ähnlich der situationistischen Minigruppen in den 50ern, die aufs ganze abzielenden Kritik hochzuhalten? Wenn man dies noch verbinden würde mit dem Marxismus und Anti-Autoritarismus von 68 und den ambivalenten Erfahrungen der „konkreten Utopien“ der 80er, wäre zumindest ein guter Cocktail gemixt, eine spannende Flaschenpost verkorkt. Denn nur wenn es Avantgarden gibt, die vielleicht auch auf Grund der Verfügung über „freie Zeit“ die Erinnerung wach halten und die Utopien vertreten, dass alles ganz anders sein könnte und sein müsste, fallen bei anderen ideologiebedingte Barrieren, lassen sich grundsätzliche Fragen wieder stellen. Ich glaube nicht, dass aus der hier versammelten Linken eine Avantgarde entstehen wird. Die jüngsten Erkenntnisleistungen in der Linken werden einem solchen Projekt nämlich weniger dienlich sein. Mehr als alles andere war der Irak-Krieg 2003 die linke Einübung in Realpolitik: man hat sich Gedanken gemacht über Sanktionsregimes und positive Folgen der Kriegsdrohung, man hat mit dem Gedanken einer nachholenden bürgerli-
chen Revolution gespielt, man fühlte sich zwischen US-amerikanischen Think-Tanks und europäi-
schen Ausschüssen so richtig wohl, bei der ostentativen „Sorge um Israel“ legte man schon ein so staatsmännisches Gesicht auf wie der deutsche Außenminister.

Derart Staatsmann geworden, stellt sich die Frage, wo diese Linke an der inneren „Klassenfront“ wohl stehen mag. Ein Teil der neuen deutsch-antideutschen Linken hat die Debatte um den Irak-Krieg wieder mal als eine weitere Aufführung in der hinlänglich bekannten Dramaturgie gesehen, wonach die vordringliche Aufgabe darin bestünde, zu verhindern, dass sich mehr als ein einzelner Deutscher zusammenrottet. Derart paralysiert von der Drohung der Aufhebung des Individuums im faschistischen Volksganzen, verkennt er, dass von der Pariser Commune über Marx bis zu zeitgenössischen Revolt-Bewegungen die Vorstellung einer nicht-repressiven Gemeinwesens prä-
sent war. Adorno bemerkte zwar, dass unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt sei, in der der Intellektuelle Solidarität noch zu bewahren vermag. Doch der entscheidende Gedanken der Solidarität wurde selbst in den pessimistischsten Ausführungen der Kritischen Theorie nie gestri-
chen. Linke, die bei jeder Pluralform schon die Volksgemeinschaft wittern, sollten sich erinnern, dass freie Individualität nur jenseits kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung möglich ist. Um einen solchen Zustand herzustellen, bedarf es aber nun einmal einer kollektiven Aktion. Gemein-
schaftsduselei steht einer solchen allerdings in ähnlicher Weise entgegen wie das verlogene Be-
kunden von Mitleid der Revolution. Hier muss erneut unterscheiden gelernt werden. Die Friedens-
bewegung, die die „Angst im Kapitalismus“ in ein europäisches Herrschaftsprojekt transformiert, ist etwas anderes als eine mögliche Bewegung, die – statt sich in Pseudo-Aktivität zu stürzen – entlang der zentralen Frage des Einkommens und der Reproduktion der kapitaldienlichen Indivi-
dualisierung eine radikale Absage erteilt.

Editorische Anmerkungen:

Gerhard Hanloser hat sich kurz vor Genua 2001 in der jungle World an einer Kritik der Antiglobalisierungsbewegung und ihrer antideutschen Kritiker versucht:
www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/28/05a.htm

Auf dem Münchner Kongress „Spiel ohne Grenzen“ wollte er nicht sprechen, weil die oben ange-
schnittenen Fragen weder vom vermuteten Publikum noch von den geladenen Referentinnen
und Referenten adäquat hätten aufgenommen werden können. Die Ideologie des Antideutschtums und die mehr als verkürzte, nämlich grundfalsche „Kapitalismuskritik“, die an den drei Tagen in München durchgespielt wurde, stellen seiner Meinung nach einen unerträglichen Verblendungszu-
sammenhang der deutschen Linken dar.

Gerhard Hanloser

Er stellte uns sein nicht gehaltenes Referat zur Veröffentlichung zur Verfügung.


www.trend.infopartisan.net/trd0603/t010603.html