Materialien 2003
Geist und Buchstabe
Eine Lobrede
Wir sind hier zusammengekommen, um drei tüchtige Frauen zu ehren: Jackie Hudson, Carol Gil-
bert und Ardeth Platte. Wir sind zusammengekommen, um ihren Mut zu preisen, ihre selbstlose Hingabe, ihre Selbstverpflichtung für die Sache einer bewohnbaren Erde – und, sicherlich, ihre Vision einer atomfreien Zukunft.
Für sie war und ist es selbstverständlich, dass ihre Pflicht zu handeln drei Bindungen entspringt:
► der Solidarität mit allen Schwestern und Brüdern auf der Welt – insbesondere mit den Millio-
nen, die in den Ketten von Furcht und Elend liegen;
► der Mitverantwortung als Bürgerinnen der USA für alle Maßnahmen ihrer gewählten Regierung – ob menschlich oder unmenschlich; und
► ihrem Gelübde als Dominikanerinnen, das ihnen auferlegt, um die Inkarnation Christi im 21. Jahrhundert zu ringen.
Und sie haben sich dafür jeweils dreißig, dreiunddreißig und einundvierzig Monate Gefängnis ein-
gehandelt. Was, so müssen wir fragen, haben sie verbrochen ? Welche schreckliche Untat verlangt so strenge Sühne?
Nun, die Nonnen hofften die öffentliche Aufmerksamkeit für die riesigen Bestände an Massen-
vernichtungswaffen in Colorado zu erregen. 49 Atomraketen in Colorado vom Typ Minuteman III wurden kürzlich neu ausgestattet, mit W-87-Sprengköpfen von jeweils 300 Kilotonnen Sprengkraft (d.h. 25mal stärker als die Hiroshima-Bombe).
Am 6. Oktober 2002 durchschnitten sie eine Sicherheitskette und erreichten das Silo N-8 eines der 49. Sie hämmerten auf die Gleise, die den Deckel des Silos in Feuerposition gleiten lassen. Sie ver-
schütteten eigenes Blut auf diese Geleise. (Später beschrieben sie ihre Aktion als ein Ritual bzw. eine Liturgie.) Dann warteten sie auf ihre Verhaftung. Materieller Schaden entstand nicht, die apo-
kalyptische Bereitschaft von Minuteman III war keinen Augenblick lang gefährdet. Was sie getan hatten, war nicht einmal ein Flohstich auf der Panzerhaut des Leviathan. Aber Leviathans Wut und seine brutale Vergeltung waren logisch genug. Was er zu fürchten hat, mehr als alles andere, ist ein allmähliches (oder plötzliches) Erwachen der Völker, ihres Bewusstseins vom Wahnsinn seiner Herrschaft: seines arroganten und ständigen Bruchs internationaler Vereinbarungen und Verträge, seiner völligen Nichtachtung der Lektionen der Nürnberger Prozesse – kurz: seines Allmachtsan-
spruches, der in der berühmten Formel zusammengefasst ist: TINA- there is no alternative.
Im Grunde ist dies ein religiöses Dogma, aber das Dogma einer absolut nihilistischen Religion, welche sogar die Möglichkeit einer bewohnbaren Zukunft leugnet. Aber da Leviathan nun einmal das Gesetz in allen Landen ist, helfen ihm die Gesetzesgnome nur zu gern dabei, seine Herrschaft zu festigen.
Natürlich gingen die drei angejahrten Damen nicht unvorbereitet in den Prozess. Sie wussten in etwa, was sie erwartete. Sie sind erfahrene Friedensarbeiter und Demonstrantinnen und sie wur-
den von Bewährungshelfern beobachtet. Sie stehen in der Tradition des gewaltlosen Widerstandes, der sich unter dem Titel PLOUGHSHARES ACTION organisiert hat.
Solche Prozesse werden überall dort aufgeführt, wo jemand NATO-Auen entweiht – zum Beispiel auch in Deutschland. Und die Technik ist immer die gleiche: alle Fragen internationalen Rechts, ja alle Erwägungen des gesunden Menschenverstandes werden aus den Tatbeständen sorgfältig aus-
geblendet, verhandelt wird nur der isolierte Punkt Hausfriedensbruch und Sabotage.
Das Pech der Schwestern war es, dass sowohl ihr Richter wie auch der Staatsanwalt treueste Schildknechte Leviathans waren. Aber auch deutsche Strafkammern bieten ganz ähnliche Szenari-
os. So wurde kürzlich Dr. Wolfgang Sternstein aus Stuttgart angeklagt, in ein Nato-Gelände ein-
gedrungen zu sein, auf dem Massenvernichtungswaffen lagern. Und der Staatsanwalt tadelte ihn streng, dass er seinen Kindern und Enkeln ein schlechtes Beispiel der Gesetzesmißachtung biete. Hoffentlich konnte sich Dr. Sternstein das Lachen verkneifen. Für ihn wie für die Drei vor dem Denver-Richter und alle ihre Freunde versteht es sich, dass sie und wohl nur sie allein imstande sein werden, kommenden Generationen (sollte es welche geben) gerade ins Auge zu sehen. Schwe-
ster Carol Gilbert hat die in ihren letzten Worten vor dem Richterspruch kraftvoll formuliert:
Ich werde weiterhin mit jeder Faser meines Daseins, Widerstand leisten – damit nicht ein Kind mich einmal fragen wird: „Warum warst du Komplizin?“ Wir dürfen sicher sein: dieses eine Kind ist eines von denen, die sich um den Yehoschuah den Galiläer drängen – ihn, der ihnen vor allen das Himmelreich zusprach.
Hier, an diesem Punkt, entfaltet sich die volle Bedeutung dieser Konfrontation, denn Richter Blackburn, der in sturer, selbstgerechter Dickensmanier in der Höhe seiner Autorität thront, ist zweifellos auch das Produkt einer langen historischen Tradition. Nur allzu oft und allzu willig haben sich christliche Kirchen in Buhlschaft mit dem königlichen, dem kaiserlichen, dem kommer-
ziellen Tier aus der Tiefe vereinigt. Allzu oft wurde der Wille des Vaters mit den dräuenden Idolen autoritärer Herrschaft identifiziert, und allzu willig wurden fragloser Gehorsam oder konformisti-
sche Gesetzestreue als christliche Tugenden angesehen, ja sogar als die unentbehrlichen Kennzei-
chen einer wahrhaft christlichen Existenz.
Mit anderen Worten: was im Gerichtssaal von Denver oder Stuttgart zu sehen ist, das ist die dra-
matische Enthüllung eines christlichen Schismas – wahrscheinlich des einzigen, das heute zählt. Der Richter auf dem Thron, der bedrängende Staatsanwalt sind die Produkte von siebzehn Jahr-
hunderten einer triumphalistischen Ehe zwischen Kirche und Krone, Kirche und Imperium, Kirche und weltlicher Autorität. Richter Blackburn zögerte nicht, den Schwestern ein Zitat von Paulus an den Kopf zu werfen, das die Gläubigen zur Befolgung der obrigkeitlichen Gebote ermahnt. Auf der anderen Seite des schismatischen Zauns sehen wir die drei Nonnen, leuchtend-fest in Kenntnis ihrer Mission. Auch sie können zitieren: aus der Apostelgeschichte, aus dem Dokument Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanums, aus den Grundsätzen der Nürnberger Prozesse und des Tokio-Protokolls nach dem zweiten Weltkrieg. Vor allem aber sind sie gerüstet mit der Grundsatz-Ent-
scheidung aus dem Römerbrief des Paulus:
Der Buchstabe des Gesetzes tötet – es ist der Geist, der lebendig macht.
Nun, vorläufig siegte der Buchstabe. Aber die Sache des lebendigen Geistes ist keineswegs tot, sondern wächst. So umfasst das neue Schisma Menschen und ihre Parteinahme weit über die Kirchenmitgliedschaft hinaus. Es ist zum Beispiel völlig gleichgültig, ob Richter Blackburn einen Stuhl in der episkopalischen oder methodistischen Kirche seines Orts reserviert hat. Und es ist ebenso unwichtig, ob die jungen Menschen dem Porto-Alegre-Kongress, die „Eine andere Welt ist möglich!“ skandieren, Taufzeugnisse vorweisen können.
In diesem globalen Zusammenhang ist der Ausgang des schismatischen Ringens noch keineswegs klar. Im Jahr des Herrn 2003 wurden wir Zeugen von zwei erstmaligen historischen Ereignissen: da war der Tag im Februar, wo buchstäblich Millionen in allen europäischen Metropolen sich für den Frieden erhoben (die Regenbogenfahne, die sie einte, war meines Wissens eine Idee der römi-
schen Gemeinde San Egidio); und da war zweitens der wahrhaft neuartige Konsens aller wichtigen traditionellen Kirchen der Christenheit im NEIN zum Irak-Krieg- ohne Rücksichtnahme auf regio-
nale oder nationale Empfindlichkeiten oder auf das Gewissensdilemma von Militärpfarrern. Um-
sonst schickte Washington einen erfahrenen katholischen Feuerwehrmann, Michael Novak, nach Rom, um den sturen Polen auf dem Heiligen Stuhl zu einer ausgewogeneren Stellungnahme zu bewegen. Es ist fast grotesk, dass der Kreuzfahrergeist im Krieg gegen die Achse des Bösen sich mehr und mehr auf eine neokonservative, meist atheistische Clique beschränkt, sowie auf die revi-
valistischen Ränder der US-amerikanischen Christenheit, die sich willig wiedergeburtsbereiten Al-
koholikern öffnen. (Einer von diesen, Rios Montt, der Massenmörder guatemaltekischer Indianer, arbeitet sich gerade wieder an die Macht; eines seiner Werkzeuge ist die Verbreitung von US-Frei-
kirchen, um den Einfluss des indianerfreundlichen Katholizismus zu brechen. Die CIA hilft dabei.)
Berühren wir zum Schluß einen sehr merkwürdigen, möglicherweise komischen Punkt.
Wie schon erwähnt, sah der Plan der Schwestern das Verweilen auf verbotenem Grund bis zur Festnahme vor. Nach dem Bericht im Spiegel mussten sie fünfundvierzig Minuten warten. Fünf-
undvierzig Minuten! Wären die Eindringlinge nicht Dominikanerinnen, sondern, sagen wir, trai-
nierte Gefolgsleute Osama bin Ladens gewesen, hätte das Resultat reichlich katastrophal sein können. Müssen die amerikanischen Streitkräfte wegen der immensen Kosten des Krieges gegen das Böse inzwischen ihr Wachpersonal verschlanken? Oder sind sie schon auf Outsourcing ange-
wiesen, auf das Mieten von Privatfirmen, um ihre apokalyptischen Arsenale zu bewachen? Privat-
firmen, die ihrerseits Senioren heuern, die Minijobs annehmen müssen, weil die Veruntreuer von Enron und WorldCom ihre Pensionskassen leergeplündert haben? Zentrale Fragen in der Tat.
Aber kehren wir in ernsthafter Solidarität zum Geschick von Jackie Hudson, Carol Gilbert und Ardeth Platte zurück. Es ist nicht leicht zu tragen. Berichte über die ersten Tage ihrer Gefangen-
schaft, die uns erreichen, sprechen von fahriger Bürokratie, von demütigenden Maßnahmen beim Transport, von einer lachhaften Ernährung, welche die schlimmsten Charakteristika von Übelwol-
len und Industrialismus kombinieren. Aber diese Berichte zeigen auch die spirituelle Standhaftig-
keit, den unbeugsamen Willen und den frohen Ausblick in eine bessere Zukunft unserer menschli-
chen Gemeinschaft.
Und wir hoffen mit Ihnen.
Jackie, Carol, Ardeth: Wir sind unterwegs mit euch.
Carl Amery