Flusslandschaft 1966

Alternative Szene

Mitte Juni treffen sich eine Woche lang in einer Villa am Kochelsee, die dem Vater von SDS-Mit-
glied Lothar Menne gehört, neun Männer, fünf Frauen und zwei kleine Kinder. Diese so genannte Viva-Maria-Gruppe, benannt nach dem gleichnamigen Film von Louis Malle, diskutiert über die Bedingungen revolutionärer Bewegungen in Westeuropa sowie über Projekte von Wohnkollekti-
ven. Mit dabei sind unter Mitgliedern der Münchner Sektion der Subversiven Aktion Dieter Kun-
zelmann, unter den Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises Formierte Gesellschaft Rudi Dutschke und Bernd Rabehl. Ulrich Enzensberger schreibt in seinen Erinnerungen über das Treffen in Ko-
chel: „Weiß der Teufel was in Kochel alles ausgekocht wurde! … ,Das Entscheidende‘, ich höre seine Stimme, die Stimme unseres Kommunevaters, ,das Entscheidende an Kochel‘ war doch nur das eine: Der gotteslästerliche Situationist mit dem fuchsroten Bart, der Schöpfer des eschatolo-
gischen Ordinationsprogramms, der berüchtigte Homo subversivus der dynamischen Soziologie usw. usf. beschloss, sein geliebtes Schwabing zu räumen, und in die alte Reichshauptstadt zu ziehen: ,Berlin war reif für ein Spektakel.‘“1

Am 4. Juli findet eine große Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Frankfurt statt. Über die Form dieser Veranstaltung kommt es zu Kontroversen, die auch in München diskutiert werden.2

Seit Anfang der 60er Jahre erschien in Nürnberg die nonkonformistische Studenten- und Schüler-
zeitung Die Stunde in einer Auflage von 6.000 Stück. Das Blatt wurde bundesweit vertrieben, die Behörden untersagten den Verkauf an bayrischen Schulen. Einige Mitarbeiter der Stunde kommen 1966 mit Frank Bökelmanns „Subversiver Aktion“ in Kontakt und richten in der Ainmillerstraße in Schwabing die Studiengruppe für Sozialforschung ein. Diese betreibt ihre kritische Politikbera-
tung von 1970 bis 2011.3 Der Leiter der „Studiengruppe“, Prof. Albrecht Goeschel meint 2019: „Die Überlegung war dabei, dass in der ekelhaften Wohlstandsmetropole München antiautoritär-kriti-
sche Politik à la Berlin oder Frankfurt am Main keine Chance hat. In der Studiengruppe wurden die ersten polizeisoziologischen Analysen, provoziert durch die ‚Münchener Linie‘, erarbeitet, die u.a. bei EVA, Suhrkamp, Westdeutscher Verlag erschienen sind. Später ist dann noch der für den Bayerischen Rundfunk produzierte ‚Polizeifilm‘ dazu gekommen, bei dem System- und Papst-Fil-
mer Wenders die Kamera machen durfte und mit dem er sich zu seinem 70igsten sehr peinlich als ‚Linker‘ aufgeblasen hat, bis ihn dann eine Abmahnung ruhig gestellt hat. Zuvor, sozusagen als Startschuss, erschienen in der ‚Gelben Reihe‘ beim Hanser-Verlag, die ‚Richtlinien und Anschläge‘, eine Materialien-Dokumentation der ‚Subversiven Aktion‘.“

Jugendliche lehnen den gewohnten Trott ab, probieren Haltungen aus, suchen für sich Neues zu entdecken, lassen sich treiben. Gammler stören nicht nur das öffentliche Erscheinungsbild der sauberen Stadt, sie stellen auch die eigentlich doch selbstverständlichen „Werte“ der Gesellschaft in Frage. Polizeipräsident Manfred Schreiber meint allerdings: „Dreck allein ist kein Straftatbe-
stand.“ – „… Haufenweise und auf Dauer treten Gammler nur in Weltstädten mit Herz in Erschei-
nung. So residiert die deutsche Schlafsack-Bewegung in München, wo Ende Juli die Gammler auf dem Nikolaiplatz im strömenden Regen sogar eine Hochzeit feierten, und vor allem in Berlin, wo es weder Polizeistunde noch Wehrpflicht gibt … Der Münchner Lokalfeuilletonist Sigi Sommer (‚Blasius der Spaziergänger’) identifizierte sie als ‚ausgewachsene Saubären’ und ‚schlummernden Müll’. Die CSU-Fraktion im Münchner Rathaus beantragte, das ‚Gammlertum … auf das diesem zukommende Maß zu reduzieren’. Die NPD forderte in ihrem Parteiblatt ‚endlich Maßnahmen … um das ganze Problem … radikal und im Sinne des gesunden Volksempfindens zu lösen’ …“4

(zuletzt geändert am 3.11.2019)


1 Zit. in: Manfred Ach, Panoramatisches. Eine Auswahl von Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und Literatur-
foren 2012 – 2018, München/Wien 2018, 147.

2 Siehe „Revisionistica“ von Waldemar und Jonathan Buchel.

3 Die Studiengruppe für Sozialforschung wird 1966 als Arbeitsgemeinschaft von universitätsangehörigen und außeruniver-
sitären wissenschaftlich-publizistisch Tätigen in München eingerichtet und von 1972 bis 2011 in der Rechtsform eines ein-
getragenen Vereins als Institut für politische Forschung, Entwicklung und Beratung betrieben. Seit 2012 wird sie wieder als freie Arbeitsgemeinschaft geführt. http://www.studiengruppe.com/projekte.htm bietet eine Zusammenstellung aller Tätig-
keiten der Studiengruppe.

4 Der Spiegel 39 vom 19. September 1966, 72. – »Zum ersten Mal in der Geschichte Schwabings sind sieben langmähnige >Gammler˂ im Morgengrauen von Bäumen des Englischen Gartens runtergeholt worden. Sie hatten dort oben übernachtet und wurden zu ebener Erde von Beamten der Münchener Polizei erwartet. Der Weckruf lautete: >Ausweiskontrolle˂. Bisher hatten die arbeitslosen jungen Herren mit den Pilzköpfen hinter dem Zaun des staatlichen >Holzhofs˂ im Englischen Gar-
ten ihre kurzen Nächte verbracht. Dort waren sie wegen Hausfriedensbruch an die Luft gesetzt worden. Auf den grünen Wiesen des größten Münchener Parkgeländes wurde es ihnen zu kühl. >Der erste Schnee wird das Problem klären˂, haben optimistische Polizeibeamte des Schwabinger Reviers vorausgesagt.« Die Wiener Tageszeitung Die Presse, zit. in Heiß und kalt. Die Jahre 1945 – 69, Berlin 1993, 531.

Überraschung

Jahr: 1966
Bereich: Alternative Szene

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