Materialien 2004
Wurmloch-Besprechung
Gelbe Plaketten auf dem Gehsteig
Was die Lindwürmer in München alles wissen und warum die Bürger am letzten Juli-Wochenende ihre dumpfigen Wohnungen verlassen sollten.
Zwei Dutzend erdbraune Gestalten formieren sich am Münchener Odeonsplatz zur Prozession. Weihrauch beginnt zu wabern, ein Tongenerator wird in Gang gesetzt. Die ersten Schaulustigen versammeln sich.
Die Drachenzähler, durchtriebene Gaukler mit Lizenz, setzen sich in Bewegung. Drei Tage lang begehen sie von hier an „Wege, die drohen vergessen zu werden“ – Wege zur Isar, Straßen und Gassen im Herzen Münchens.
Dabei begeben sie sich auch auf die Suche nach den Lindwürmern, die dereinst der Legende nach der Stadt die Pest gebracht haben sollen und noch immer tief unter dem Asphalt lauern.
Der Asphalt ist nur scheinbar glatt und eindimensional
Die Verhandlungen mit den Drachen beginnen bereits nach wenigen Metern.
Ein „Wurmloch“ ist ausgemacht worden. Die Stelle wird rituell markiert. Ein Hohepriester beginnt die Verhandlungen mit dem Drachen, er lauscht, er spricht, er beschwichtigt und – er lernt von den Drachen über den Ort.
Denn die Drachen wissen alles. Sie bewahren schöne Erinnerungen gleichwohl wie traurige, histo-
rische Begebenheiten, Chancen und Versäumnisse – sie kennen jeden Ort in der Stadt, in all seinen Facetten und über alle Zeiten hinweg.
Das Böse vertreiben, die Geschichten der Vergangenheit erzählen, Plätze und Räume der Stadt ins Bewusstsein rücken, die fragile Idylle der Stadt darstellen, auch die grüne – danach strebten die mystischen Gestalten um die Performancer Berkan Karpat, Philipp Kolb, Robert Hofmann und Andreas Ohrenschall.
Daher greifen sie unter den Asphalt, brechen mit Klangverstärkern die Kruste auf. Der Bordstein, die Teerschicht – alles ist nur scheinbar glatt und eindimensional. Darunter verbergen sich, ar-
chäologischen Schichten gleich, historische und andere Wahrheiten Münchens.
Ein hinterher geschleiftes Mikrofon sammelt Klänge, die im mitgeführten Klangwandler zu neuen Tonspuren verdichtet werden. Klaus Schedl, der Klangmagier, setzt die Geräusche des Asphalts mit seinem Klangstab immer wieder neu zusammen. Und so entstehen abwechselnd hohe, heulende oder tiefbrummende Sequenzen, die die Würmer anziehen sollen.
Aus den übermannsgroßen Posaunen ergießen sich die Klänge über die Schar der Drachenzähler und der Umstehenden hinweg. Vor allem die tiefen Töne unterstreichen den Charakter einer Pro-
zession, sie schallen oft über mehrere hundert Meter hinweg und erinnern an einen Zug buddhi-
stischer Mönche.
Damit ziehen sie nicht nur die Drachen an, sondern wecken auch die Neugierde der Münchner, die auf ihren Einkaufs- und sonstigen Wegen ins Straucheln geraten, an- und innehalten oder zumin-
dest kurz stutzen.
Dereinst wütete in München eine böse Seuche
Zu Zeiten der Pest waren es die Schäfflertänzer, die als erste wieder das Leben wagten. Sie forder-
ten vor 500 Jahren zu Pestzeiten mit Tanz und Gesang die Bürger auf, „ihre dumpfigen Wohnun-
gen zu verlassen“, wie es die Legende besagt. In Anlehnung an die historischen Vorbilder ersuchten nun die Drachenzähler ihre Mitbürger an ihrer Lust teilzunehmen und das Leben neu zu entdek-
ken.
Auf insgesamt sechs Etappen haben die Drachenzähler zahlreiche Orte rund um die Isar „ent-
wurmt“. Da, wo die Drachen besänftigt, zärtlich umgarnt oder verjagt wurden, zeugen fortan gelbe Plaketten, 10 mal 30 Zentimeter große „Kunstebenen“ von der Arbeit der Drachenzähler. Diese kunsterlaubten Räume weisen auf die Besonderheit des Ortes hin, und sie fordern den Betrachter zur freien (Kunst-)Äußerung auf. Ein normativer Eingriff in den öffentlichen Raum, zumindest bis Oktober 2005, dem Ende der Bundesgartenschau. So sieht es das Rahmenprogramm der Landes-
hauptstadt vor.
Bis dahin wird am Reichenbachplatz, in dessen unmittelbarer Nähe Fassbinder wohnte, eine viersprachige Tafel mit der Aufschrift „ANGST ESSEN SEELE AUF“ den Bordstein zieren – eine Anspielung darauf, dass die mehrfach geforderte Umbenennung des Platzes zu Ehren des berühm-
ten Mitbürgers in den vergangenen 15 Jahren kein Gehör in der Stadtverwaltung gefunden hat.
Die Zuschauer waren, wenn wunderts, geteilter Meinung. So mancher Betrachter ließ sich an-
stecken, manch andere hat’s gewundert, einigen war die Kunst zu hoch.
Die Drachenzähler veranstalteten ein hintersinniges Treiben, das erinnerte, mahnte, zur Ent-
deckung ermutigte – und sicher nicht von jedem verstanden wurde.
Eine mutige Performance, die das ruhige München nicht allzu sehr erschütterte, aber manch einen für einen Moment wach rüttelte oder durch seine mystische Strahlkraft verzauberte.
Ulrich Stefan Knoll
Die Drachenzähler werden am 10. – 12. September im Rahmen der „Open Art“ erneut in Aktion treten. Weitere Einzelheiten hierzu entnehmen Sie der Tagespresse oder finden sie unter www.openart.de.
Haidhauser Nachrichten 9 vom September 2004, 11.