Flusslandschaft 1966
Bürgerrechte
Der Philosoph Karl Jaspers fällt ein vernichtendes Urteil über die „formale Demokratie“. Seine Schrift wird vor allem in Kreisen der Außerparlamentarischen Opposition gelesen.1
Behörden gehorchen eigenen Gesetzen. Manchmal meint der Mensch, dass nicht die Behörde für ihn da ist, sondern dass es sich umgekehrt verhält. Der subversive Widerstand von Münchnerinnen und Münchnern gegen die in den Behörden wirkmächtige strukturelle Gewalt zieht sich durch alle Jahre, ist aber mit den seit dem Ende des Jahrtausends seltener werdenden Einheimischen auch weniger oft feststellbar.2
Am 4. Januar werden fünfundzwanzig Demonstranten zu Geldstrafen verurteilt.3
Am 7. März findet eine Kundgebung für die Grundrechte statt. (Brief an den Oberbürgermeister)4
Im Oktober erscheint in der edition suhrkamp der 1965 in den USA herausgegebene Essay Herbert Marcuses „Repressive Toleranz“. Darin heißt es, dass es für unterdrückte und überwältigte Minder-
heiten ein „Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die ge-
setzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben“.
Heinrich Böll spricht in Wuppertal am 14. Oktober zur Eröffnung des städtischen Theaters und meint unter anderem, „dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht“. Dieser Satz, aus dem Gesamtzusammenhang einer Rede gerissen, die zur Verteidigung des Staates aufruft, löst einen Aufschrei der Empörung aus, die bis in die späten 70er Jahre nachwirkt.
„HU erhält Zuzug – ‚Interessengemeinschaft für Bürgerrechte’ schließt sich an – Die im ganzen Bundesgebiet bestehende ‚Interessengemeinschaft zur Wahrung der Bürgerrechte’ beschloss bei ihrer letzten Mitgliederversammlung, sich als selbständige Organisation aufzulösen und ihre Mit-
glieder und Mittel in die Humanistische Union einzugliedern. – Die Gemeinschaft war 1962 an-
lässlich der ‚Schwabinger Krawalle’ in München gegründet worden. Sie führte für die von Über-
griffen der Polizei Betroffenen zahlreiche Prozesse und trat immer wieder gegen obrigkeitsstaat-
liche Mißstände in der Verwaltung auf. Auf die Reform der Strafprozessordnung, die der Bundes-
tag 1964 verabschiedete, auf die juristischen Konsequenzen der ‚Spiegel-Affäre’ und auf die Straf-
rechtsreform nahm die Vereinigung durch ausführliche Rechtsgutachten Einfluss. – Um die durch ständige Geldsorgen behinderte Arbeit auf eine breitere finanzielle und organisatorische Basis zu stellen, sah sich der Vorstand jetzt veranlasst, Anschluss bei der Humanistischen Union zu suchen, die sich unter Mitwirkung zahlreicher bekannter Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kunst seit Jahren mit wachsendem Erfolg dem Schutz der Grundrechte widmet. Die speziellen Aufgaben der aufgelösten Vereinigung werden dort in einer eigenen Arbeitsgemeinschaft unter der bisherigen Leitung weitergeführt.“5
(zuletzt geändert am 30.12.2023)
1 Siehe „Parteienoligarchie“ von Karl Jaspers.
2 Siehe „Amtliche Befragung“ von Artur Troppmann.
3 Vgl. Münchner Merkur 2/1966.
4 Vgl. Münchner Merkur 55/1966.
5 Mitteilungen der Humanistische Union 29 vom November/Dezember 1966 — Januar 1967, 5.