Flusslandschaft 1966
CSU
CSU-Politiker Richard Jaeger fungiert von 1953 bis 1956 und von 1967 bis 1976 als Vizepräsident des Bundestags; Justizminister ist er 1965 bis 1966, das geltende Staatsschutzrecht will er „refor-
mieren“: „Nach Jaegers Entwurf soll mit Gefängnis und möglicherweise mit Zuchthaus bestraft werden, ,wer zu einem fremden Nachrichtendienst oder zu einer anderen fremden Einrichtung, die sich mit der Beschaffung von Staatsgeheimnissen befassen, oder zu einem ihrer Mittelsmänner, nachrichtendienstliche Beziehungen aufnimmt oder unterhält, welche wenigstens für einen Betei-
ligten darauf gerichtet sind, Mitteilungen von nachrichtendienstlichem Interesse über militärische, politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutsch-
land … zu erlangen.‘ Bislang ist allein das echte Staatsgeheimnis im Sinne des unverfügbaren poli-
tischen und militärischen ,Intimbereichs‘ Schutzobjekt der Norm. In Zukunft würde es jeder Ge-
genstand ,nachrichtendienstlichen Interesses‘ sein. Wer die Geheimdienstpraktiken nur von ferne kennt, weiß, dass es von einer Zeitungsmeldung bis zu den Angaben des Statistischen Jahrbuches über Produktionsziffern und Bevölkerungszuwachs nichts gibt, woran östliche – und, vice versa, westliche – Dienste kein Interesse hätten. Infolgedessen gibt es auch kein Gesprächsthema zwi-
schen Ost und West, es sei denn das Wohlergehen der Großmutter, welches nicht den Verbots-
tatbestand erfüllen würde. Das Bewusstsein des westdeutschen Gesprächspartners, nachrichten-
dienstliche Beziehungen aufzunehmen, wird dabei ebenso wenig gefordert wie seine Kenntnis, dass er es mit einem ,Mittelsmann‘ einer ,Einrichtung‘ zu tun hat, die Spionage betreibt. Also muss der Bundesbürger eisern schweigen, wenn er sich nicht strafbar machen oder zumindest dem Risiko eines Ermittlungsverfahrens aussetzen will, das ihn Stellung und Ruf kosten kann. Wo alles für ge-
heim erklärt wird, ist jedermann Geheimnisträger: ,Feind hört mir!‘ in Neuauflage … Ist die Hyste-
rie totaler Geheimhaltung wirklich ein geeignetes Mittel, die offene Gesellschaft einer Demokratie vor dem Totalitarismus zu bewahren? Hans Schueler“1
„… Ein französischer Neofaschist sagte vor zwei Jahren bei einer Diskussion in München: ,Deutschland ist nach wie vor das lebendige Mutterland des Faschismus.‘ Ein Ostpreuße und Offizier des Bundesgrenzschutzes meinte an einem bayrischen Biertisch: ,Was haben sie eigentlich gegen den Strauß? Als er Minister wurde, waren wir klein, als ihn die ewig Unzufriedenen hinaus-
geekelt hatten, waren wir wieder oben und stark.‘ Strauß ist bescheiden: Nicht ihm sei die Stärke des Bundes zu verdanken, sprach er auf der Landesversammlung der CSU am 15. Oktober 1966 in München. Der Altkanzler Adenauer habe es erreicht, den ehemaligen Kriegsgegnern zwei Drittel des Sieges über Deutschland allmählich zu entwinden. Heute kämpfe nur die Sowjetunion darum, diesen Prozeß rückgängig zu machen. (Übrigens: was das restliche Drittel sei, war von Strauß nicht zu erfahren. Er verschwieg auch, wer sich um dieses letzte Drittel kümmern werde.) Strauß ist kein Hitler, aber wie jener hat er ein Gespür dafür, was viele von ihm hören wollen und wofür einige Herren finanzielle Einsätze machen. Das eine erinnert an den Circus, das andere an ein illustres Pferderennen. Strauß beruft sich auf einen Glaubensartikel der westdeutschen Bourgeoisie: 1945 war nicht das Jahr der Befreiung, es war das Jahr der verlorenen Siege. Verlorene Siege erheischen eine Revision der Verluste. In den Händen der Reaktion mißrät die Dialektik immer zu demagogi-
schen Tricks, die jedoch genug ungewollte Ironie enthalten, um sich selbst zu entlarven. Schließen wir nach Strauß, so verwalten die Herrschenden der Bundesrepublik wahrhaftig das Erbe der Na-
zis: deren Verluste buchen sie geflissentlich in neue Gewinne um …“2
„Er ist nicht jedermanns Freund und will es nicht sein. Er ist so eigenartig, so derb, aber auch so sensibel wie sein geliebtes Bayern. Der bayerische Löwe – mit allen Vor- und Nachteilen – heißt Strauß.“3
Seit 1. Dezember regiert in der Bundesrepublik eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Unter Bundeskanzler Kiesinger sitzen in der Ministerrunde auch der von konservativer Seite und nicht zuletzt von Franz Josef Strauß seit Jahren diffamierte Willy Brandt und Strauß selbst. Kiesinger war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP. Franz Josef Strauß hat in der „Spiegel-Affäre“ das Par-
lament belogen. In der Öffentlichkeit heißt es: „Schauts her, als Nazi kannst Kanzler werden und als Minister kannst das Parlament belügen und trotzdem wieder Minister werden.“
„Die CSU übernimmt am 5. Dezember nach ihrem Sieg bei den Landtagswahlen die Alleinregie-
rung in Bayern, die sie auch noch vierzig Jahre später innehat; die Wahlen des Jahres 1966 sind auch noch unter einem anderen Aspekt bemerkenswert: die NPD zieht mit 15 Abgeordneten (7,4 Prozent der Stimmen) für eine Periode in die bayerische Volksvertretung ein; mit 12,2 Prozent erhielt diese rechtsradikale Partei in Mittelfranken besonders hohen Zuspruch; vor allem die dort konzentrierten ‘Vertriebenen’, deren traditioneller ‘Gesamtdeutscher Block’ im Niedergang begrif-
fen ist, finden vorübergehend in der NPD, später in der CSU eine neue politische Heimat.“4
(zuletzt geändert am 24.4.2025)
1 Westermanns Monatshefte 8 vom August 1966, 81 f.
2 Jakob Mader, Formiert den Widerstand! In: kürbiskern. Literatur und Kritik 1/67, München, 123.
3 Bild-Zeitung vom 15. November 1966.
4 Robert Schlickewitz, Sinti, Roma und Bayern. Kleine Chronik Bayerns und seiner „Zigeuner“, 2008, www.sintiromabayern.de/chronik.pdf, 133.