Materialien 2006

A bisserl Polizeistaat schad't doch nix

Staatsaktion gegen Kunstaktion

Am 6. September 2006 versuchten um 11 Uhr vormittags die beiden Aktionskünstler Wolfram Kastner und Georg Ledig vom Alten Rathaus der bayerischen Landeshauptstadt aus durch die Innenstadt zu gehen. Beide sahen zwei Persönlichkeiten der Weltgeschichte ähnlich. Ledig war in einen dunklen Anzug gewandet, besaß eine schwarze nicht zu bändigende Tolle, die ihm in die Stirn fiel und hatte unter der Nase eine schwarze Rotzbremse, ein kleines Bärtchen, angebracht. Die Ähnlichkeit war nicht zwingend, aber naheliegend. Ledig blickte ernst, wie man es von einem Weltpolitiker verlangt, in die Runde und verbreitete damit eine Anmutung, die durchaus Distanz gebot; niemand fühlte sich so recht motiviert, mit diesem Herrn zu sprechen.

Ganz anders Kastner. In seinem weißen, langen Ornat und mit dem kleinen weißen Käppchen auf dem ehrwürdigen Haupt schien er längst vergangenen Zeiten entstiegen. Ganz offenbar stand hier ein katholischer Kirchenfürst, der mit seinen gütigen Augen die Passanten freundlich anblickte und mit immer wieder ausholend einladender Geste signalisierte, ich bin bei euch, wer glaubt, ist nie allein.

Einige der zahlreich anwesenden Touristen, die den Ort wegen des vom Rathausturm klingenden Glockenspiels frequentiert hatten, waren erfreut, den Papst schon jetzt zu sehen. Vor allem aber japanische Gäste nahmen mit Vergnügen die Gelegenheit wahr, eine Person zu Gesicht zu bekom-
men, die dem Papst ähnlich sah. Sie wird die Diavorträge in ihrer Heimat bereichern.

Noch vor dem Auftritt der beiden Künstler kam es zu intensiven Gesprächen mit Vertretern des Staatsschutzes, die das Münchner Polizeipräsidium geschickt hatte. Einer meinte, der weiße Talar sei eine geschützte Amtskleidung, und wer diese trage, begehe Amtsanmaßung. Ein anderer mein-
te, nicht jeder Mensch könne einen echten Papst von einem falschen unterscheiden. Nicht jeder sei so klug, Fiktion von Wirklichkeit trennen zu können. Kastner meinte daraufhin, diese Auffassung zeige, dass der Redner die Menschen nicht gerade hoch einschätze. Und er betonte wiederholt, er sei nicht der Papst, sondern ein Nuntius.

Offenbar glauben die fürsorglichen Behörden, dass die ihnen anvertrauten Mitbürgerinnen und Mitbürger ziemlich bescheuert sind. Als eine ihrer zentralen Aufgaben scheinen sie den Schutz ihrer Blödheit anzusehen. Auf den Gedanken, die Klügeren und ihre Intelligenz seien ein nicht minder schützenswertes Gut, kommen sie nicht.

Ledig und Kastner wollten mit ihrer Aktion auf ein oft und immer wieder angesprochenes Anliegen aufmerksam machen. Was sich die Deutschen immer noch bieten lassen, käme für selbstbewusste Franzosen oder Italiener niemals in Frage: Die Verschwisterung von Kirche und Staat. Ledig und Kastner fordern Trennung von Kirche und Staat. Und dazu hatten sie ein Flugblatt verfasst.

In diesem weisen sie im besonderen darauf hin, dass es 1933 zwischen dem Nazistaat und der ka-
tholischen Kirche zu einem bis heute gültigen Reichskonkordat kam, durch welches der Staat der Kirche zahlreiche Rechte einräumt. Dass die Kirche nicht zuletzt deshalb dem Nazistaat wohlwol-
lend zur Seite stand, ist verständlich.

Noch bevor sich der Spaziergang der beiden Herren in Bewegung setzen konnte, wurde ein 22jähri-
ger Mann, der dieses Flugblatt verteilen wollte, von Staatsorganen rüde zu Boden geworfen, seine Flugblätter wurden beschlagnahmt, er festgenommen und in Handschellen abgeführt. Die Vertei-
lung des Flugblattes wurde amtlich mit der Begründung untersagt, „es würden nationalsozialisti-
sche Zeichen dargestellt“.

Der Vorwurf der Staatsschützer lautete wiederholt, dass es sich bei der Kunstaktion um eine unan-
gemeldete Versammlung handele. Es seien mehr als zwei Personen tätig. Die Künstler wiesen da-
rauf hin, dass ihre Aktion nur von zwei Personen getragen werde. Das die Aktion verdeutlichende Flugblatt werde zur Information der Passanten von einem Nichtakteur verteilt. Einer der Beamten rief, dass dies hier eine unangemeldete Versammlung sei, und drohte, es gebe auch Urteile, wo schon zwei Personen eine unangemeldete Versammlung seien.

Nach längerem Hin und Her und Diskussionen mit Behördenvertretern konnten sich Herr Kastner und Herr Ledig endlich in Bewegung setzen. Ihr Weg führte die Dienerstraße hinunter. An der Ecke Diener- und Schrammerstraße versuchte wiederum ein anderer junger Mann die noch unent-
deckten Reste des Flugblattes an einige wenige Passanten zu verteilen. Auch hier erfolgte stante pede eine zweite Beschlagnahme. Dass die Polizei nicht auch noch Kastner und Ledig festnahmen, war nur den zahlreichen Pressevertretern zu verdanken.

Eine Beamtin sprach während des Zuges Passanten an und fragte sie, wie sie diese Aktion denn fänden. Eine Dame meinte, sie fände die Aktion gut, worauf sie gebeten wurde, sich mit dem Per-
sonalausweis zu legitimieren. Ganz offensichtlich suchte die Beamtin Passanten, die sich empör-
ten, um daraus Gründe für ein Einschreiten gegen die Aktion zu gewinnen. Sie scheint aber nie-
mand gefunden zu haben.

Ein zufällig vorbei kommender älterer Passant rief laut: „Wegen solcher Dinge bin ich aus der DDR abgehauen, wegen Bevormundung, Polizeiwillkür, Zensur und Spitzelei. Aber hier ist es ganz ge-
nauso. Um keinen Deut besser!“ Der Passant ging schimpfend seines Wegs. In der Gruppe um Le-
dig und Kastner schienen sich mehr Staatsdiener zu befinden als „Bevölkerung“. Einer von ihnen gab ununterbrochen den momentanen Standort der Gruppe an die „Zentrale“ weiter. Nichts ge-
schah, ohne dass es sofort registriert wurde.


Ein Beamter des Staatsschutzes wurde vorsorglich unkenntlich gemacht.

Der Zug wurde nun von den Beamten in das Polizeipräsidium in der Ettstraße geleitet. Man hatte Kastner und Ledig angeboten, dass man dort „gemeinsam klären werde, welcher Weg begangen werden darf“ – eine arglistige Täuschung, wie sich später herausstellte. Die Gruppe ging nun ge-
messenen Schritts weiter. Herr Ledig sah ernst in die Runde, Herr Kastner grüßte freundlich. Auf dem Weg ins Präsidium zeigten sie sich gegenseitig Sehenswürdigkeiten der Residenzstadt, so mit Blick in die Kardinal-Faulhaber-Straße das Erzbischöfliche Ordinariat oder die sich am Promena-
deplatz befindliche Deutsche Bank. Die die beiden Herren begleitenden Polizeikräfte passten ihr Schritttempo an.

Herr Ledig und Herr Kastner bekundeten, sie würden es begrüßen, wenn ein Fotograf den histori-
schen Moment festhielte, in dem sie mit dem polizeieigenen Paternoster nach oben fahren. Leider wurde der Zutritt zum Polizeipräsidium nur zwei den Zug begleitenden „Journalisten“ erlaubt. Später stellte sich heraus, dass diese zwei Herren für die Polizei arbeiten. Pressevertreter, die zuvor allein durch ihre Anwesenheit dafür sorgten, dass sich die Staatsorgane in ihrem Umgang mit den Künstlern etwas zurückhielten, waren nun von einer weiteren Beobachtung der Vorgänge ausge-
schlossen. Sie versuchten, indem sie ihre Presseausweise zeigten, Ledig und Kastner in das Gebäu-
de zu begleiten. Mit der zweifelhaften Behauptung, zwei Journalisten hätten schon einen Zugang erhalten, wurde ihnen der Zutritt verwehrt.

Dann kam es im Kommissariat 14 (Politische Polizei) zu Gesprächen auf höchster Ebene. Kastner und Ledig wiesen noch einmal darauf hin, dass sie es sich nicht gefallen ließen, kriminalisiert zu werden. Sie bezeichneten die an ihnen vorgenommenen Maßnahmen als die eines Polizeistaates würdig. Einer der anwesenden Beamten meinte: „A bisserl a Polizeistaat schad’t doch nix!“

Schließlich entschied die Behörde ex cathedra, dass Kastner und Ledig in diesem „Aufzug“ nicht weiter durch die Stadt spazieren dürfen. Aus der Kunstaktion wurde durch Einbeziehung der Flug-
blattverteiler des Bundes für Geistesfreiheit eine nicht genehmigte Demonstration konstruiert. Weiter entschied der Leitende Kommissar, dass es Herrn Kastner verboten werde, jemals wieder sich ein Kostüm auszuleihen, das eine Verwechslungsgefahr darstellt.

Nach etwa einer halben Stunde konnten die beiden Künstler das Polizeipräsidium mit der Auflage verlassen, die Kunstaktion nicht fortzusetzen. Kastner musste sein Gewand den Behörden überge-
ben, Ledig musste seine Haare und das Bärtchen abnehmen. Die Beamten versicherten Kastner, sie würden noch am gleichen Tage selbst das ausgeliehene Kostüm beim Kostümverleih zurückgeben. Im „Beschlagnahmebescheid“ des „Papstgewandes“ stand unter „Grund der Beschlagnahme“: „Ge-
fährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“.

Als die beiden Künstler das Präsidium verließen, fotografierte ein Pressevertreter, der noch ausge-
harrt hatte, und es kam zu einem neuen Konflikt. Einer der anwesenden Beamten beanspruchte sein Recht auf das eigene Bild und verlangte von dem Journalisten, dass dieser ihm das zuletzt an-
gefertigte Bild auf dem Display seines Apparats zeige. Daraufhin kam es erneut zu einer erregten Diskussion darüber, ob dieses Bild vor dem Verbot oder nach dem Verbot entstanden ist.

Die Augenzeugen der Kunstaktion erlebten Überwachung, Kontrolle, Restriktionen, Einschüchte-
rung, fragwürdige Tatsachenbehauptungen und Verbote in Fülle. Nicht dort, wo Gammelfleisch in Kühlhäusern vermodert, sondern dort, wo Menschen nachdenken und handeln!

Es ist das traurige Schicksal aller Zensoren, dass in den folgenden Jahren und Jahrzehnten über ihre Maßnahmen nur noch gelacht wird. Heute ist uns aber nicht zum Lachen. Die Frage stellt sich: Was ist das für ein Staat, der einen Staatsschutz hat, der noch nicht einmal begreift, was den Staat gefährdet und was nicht? Gefährdet die Inanspruchnahme von Grundrechten diesen Staat oder solche Staatsaktionen?

Günther Gerstenberg/Christoph Klinke/Georg Ledig


Münchner Lokalberichte 19 vom 15. September 2006, 4 ff.

Überraschung

Jahr: 2006
Bereich: Religion

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