Materialien 2009

Feuertod am Hindukusch

Rede auf dem Münchner Odeonsplatz am 9. September 2009
von Jürgen Rose

Sehr geehrte Versammelte, liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!

Es freut mich sehr, dass Sie heute hier erschienen sind, um gegen den mörderischen Krieg am Hindukusch zu protestieren und ein Zeichen zu setzen für den Frieden auf der Welt. Sicherlich wird manch einer unter Ihnen sich fragen, ob ein Soldat, der üblicherweise als Staatsbürger in Uniform herumläuft, überhaupt so einfach in der Öffentlichkeit reden darf? Ja, das darf er, wenn er es als Staatsbürger ohne Uniform tut und deutlich macht, dass er nichts weiter als seine eigene, ganz private Auffassung vertritt – was ich hiermit tue.

Vor mehr als zwei Jahren, am 15. März 2007, habe ich selbst mich als zuständiger Stabsoffizier im hiesigen Wehrbereichskommando IV – Süddeutschland – geweigert, auf Befehl die Verlegung von Tanklastzügen der Bundeswehr nebst der benötigten Bedienungsmannschaften nach Afghanistan zu organisieren. In der dienstlichen Meldung an meinen Vorgesetzten hatte ich damals formuliert: „Im Hinblick auf die von der Bundesregierung getroffene Entscheidung, Waffensysteme TORNA-
DO der Bundesluftwaffe zum Einsatz nach Afghanistan zu entsenden … erkläre ich hiermit, dass ich es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, den Einsatz von TORNADO-Waffensystemen in Afghanistan in irgendeiner Form zu unterstützen, da meiner Auffassung nach nicht auszuschlie-
ßen ist, dass ich hierdurch kraft aktiven eigenen Handelns zu einem Bundeswehreinsatz beitrage, gegen den gravierende verfassungsrechtliche, völkerrechtliche, strafrechtliche sowie völkerstraf-
rechtliche Bedenken bestehen. Zugleich beantrage ich hiermit, auch von allen weiteren Aufträgen, die im Zusammenhang mit der „Operation Enduring Freedom“ im allgemeinen und mit der Ent-
sendung der Waffensysteme TORNADO nach Afghanistan im besonderen stehen, entbunden zu werden.“

Die tragischen Folgen eines der verheerendsten Luftangriffe im schmutzigen Krieg am Hindu-
kusch, über den jetzt in der Republik Entsetzen herrscht, bestätigen mich vollauf in meiner damals getroffenen Gewissensentscheidung.

Die nächtliche Attacke aus der Luft auf zwei von afghanischen Widerständlern erbeutete Tanklas-
wagen war von einem Oberst der Bundeswehr befohlen worden und wurde von Jagdbomberpiloten der US Air Force prompt exekutiert. Blitzschnell, präzise und mörderisch hat sie funktioniert, die High-Tech-Kriegsmaschinerie der NATO. Kaum eine Stunde war vergangen, nachdem der Gegner die Tanklastwagen der ISAF erbeutet hatte, da hatten die fliegenden AWACS-Gefechtsstände die waffenstarrenden Kampfmaschinen zu ihrem Ziel dirigiert. Was folgte, waren gigantische Explosi-
on und flammendes Inferno. Übrig blieben die qualmenden Stahlskelette zweier Tanklastzüge und Dutzende, wenn nicht über hundert verkohlte Menschenleiber. Was wohl angesichts dessen in den Köpfen jener, wie Kurt Tucholsky sie nennen würde, „Schlachtendirektoren“, vorgehen mag, die in der »Chain of Command« ihre Befehlsgewalt ausübten?

In jener Nacht jedenfalls scheint eiskalte Militärlogik Regie geführt zu haben. Der Feind hatte zwei Fahrzeuge erbeutet, die Treibstoff für die Besatzungstruppen transportierten. Mit allen zur Verfü-
gung stehenden Mitteln sollte ihm die Nutzung dieser wertvollen Ressource verwehrt werden. Viel-
leicht wollten die Taleban die Tanklaster aber auch als rollende Benzinbomben für Selbstmordat-
tentate nutzen. Unverzügliche Reaktion schien geboten. Am schnellsten konnte diese die Luftwaffe leisten. Das Risiko schien begrenzt, schließlich fuhren die Lastzüge mitten in der Nacht über einsa-
me Pisten. Das Ziel sollte für die Jagdbomberbesatzung leicht identifizierbar sein. Getroffen wer-
den konnten ja nur die feindlichen Kämpfer, welche die Tanklaster geraubt hatten und Kollateral-
schäden waren in dieser Situation zu nächtlicher Stunde kaum zu erwarten.

Doch bei genauerem Hinsehen erscheint das Vorgehen weit weniger durchdacht, sondern im Ge-
genteil in höchstem Maße fragwürdig. Der Wert der beiden Tanklaster war in Wirklichkeit eher marginal; den Krieg konnten die Taleban mit ihnen jedenfalls nicht gewinnen. Und selbst wenn die Selbstmordanschlagstheorie stimmen sollte – die Laster konnten doch, quod erat demonstrandum, nur auf befestigten Pisten oder Straßen fahren. Die aber waren mit infanteristischen Kräften jeder-
zeit zu überwachen. Und schon mit einer simplen, über die Straße gespannten Nagelkette lässt sich jedes bereifte Fahrzeug stoppen. Jeder Offizieranwärter lernt in der Ausbildung, wie er Sicherungs-
kräfte, die mit Maschinengewehren, Panzerfäusten, Handgranaten und anderem Rüstzeug ausge-
stattet sind, zum Schutz eigener Positionen einsetzen kann. Die Bundeswehrtruppe am Hindu-
kusch verfügt über all diese Waffen und noch mehr. Warum also diese Eile und dieses Übermaß? Hatte nicht der neulich ins Amt gekommene ISAF-Kommandeur My-Chrystal größte Zurückhal-
tung im Hinblick auf die Anforderung und den Einsatz von Luftnahunterstützung angeordnet? Wollte da ein Kommandeur beweisen, dass die im vermeintlich ruhigen Nord-Afghanistan statio-
nierten Bundeswehrsoldaten eben nicht die „Drückeberger“ und „Weicheier“ waren, als die sie von ihren alliierten Kameraden mitunter verspottet wurden? Sollte die Welt erkennen, dass „die Deut-
schen wieder gelernt hatten zu töten“, wie vor Jahren schon DER SPIEGEL getitelt hatte? Die har-
schen Reaktionen in der Europäischen Union und in der NATO zeigen, dass solche Fragen sich nicht einfach vom Tisch werden wischen lassen. Die bislang völlig kopflos reagierende Bundesre-
gierung wird Rede und Antwort stehen müssen, und zwar über jene Desinformationssprechblasen hinaus, die bislang aus Berlin ertönen.

Denn eigentlich hätte die Bundesregierung, insbesondere aber der Kriegsminister Franz Josef Jung, wissen müssen, auf welch barbarische Weise die NATO den von den USA inszenierten Krieg am Hindukusch führt. Informiert hatte die politischen Entscheidungsträger nämlich der Mann, der in der afghanischen Hauptstadt Kabul von Juli 2006 bis August 2008 das Amt eines – so lautet der etwas sperrige Titel – „militärpolitischen Beraters der Bundesregierung“, also eines Militäratta-
chés, bekleidet hat. Es handelt sich um den Oberstleutnant Jürgen Heiducoff. Der hatte im Früh-
jahr 2007 in einem internen Schreiben an Außenminister Frank-Walter „Guantánamo“ Steinmeier die fatale Entwicklung des Konflikts in Afghanistan ungewöhnlich scharf kritisiert. Darin brand-
markte er die [Zitat] „Eskalation der militärischen Gewalt in Afghanistan“. Es wäre, so Heiducoff, „unerträglich, dass unsere Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevöl-
kerung und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Westliche Jagdbomber und Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung. Dies müssen die Paschtunen als Terror empfinden.“ Weiter hieß es in dem Brief an den deutschen Außenminister: [Zitat] „Wir sind dabei, durch diese unverhältnismäßige militärische Gewalt das Vertrauen der Afghanen zu verlieren“. Dabei wäre „bekannt, dass es um die Verletzung des Kriegsvölkerrechts“ gehe. Das Schreiben warnte vor einer schleichenden, völkerrechtswidrigen Ausweitung des ISAF-
Mandats: [Zitat] „Das Militär droht sich zu verselbständigen und von den politischen und völker-
rechtlichen Vorgaben zu lösen.“ Deutliche Kritik übte der militärpolitische Berater auch an der Informationspolitik der ISAF-Führung. Politikern und Parlamentariern gegenüber würde laut Heiducoff „die militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt. Auch deutsche Generäle beschö-
nigen oder verschweigen eigene Probleme.“ Dabei würden „die ständigen Forderungen nach Trup-
penverstärkung, die steigenden Kosten des militärischen Engagements, das Anwachsen eigener Verluste und die wachsende Zahl ziviler Opfer eine eigene Sprache“ sprechen, mit der „die Unge-
eignetheit und Ausweglosigkeit militärischer Gewalt als Lösung der inneren und äußeren Probleme Afghanistans“ zum Ausdruck käme. Soweit die letzte Woche eindrucksvoll bestätigte Analyse mei-
nes Offizierskameraden Jürgen Heiducoff.

Ungeachtet solcher Kritik aus profundem Munde bombt die NATO gnadenlos weiter, verursachen die unverhältnismäßigen Luftangriffe massenhaften Tod unter der unbeteiligten Zivilbevölkerung. Besondere Empörung freilich verdient der Umstand, dass mittlerweile 70 Prozent der Opfer, die auf das Konto der mit ihrer total überlegenen Luftwaffe ja so ungeheuer tapfer und zivilisiert kämpfenden westlichen Truppen gehen, Frauen und Kinder sind. Und welch eine Heuchelei, in Anbetracht dessen im selben Atemzug den stereotyp als „radikalislamische Taliban“ apostrophier-
ten afghanischen Widerständlern die „Feigheit“ und „Hinterhältigkeit“ ihrer Angriffe auf die frem-
den Besatzungstruppen vorzuwerfen – während namentlich die CIA mit unbemannten, fernge-
steuerten Drohnen vornehmlich Ziele in den von Paschtunen bewohnten pakistanischen Grenzge-
bieten angreift, wobei bislang circa 700 zivile Dorfbewohner ums Leben kamen.

Wie wir wissen dauern die Massaker aus der Luft weiter an: In einem besonders eklatanten Fall bombardierte die U.S. Air Force am 4. Mai zwei Dörfer in der Provinz Farah, wobei elf Männer, 21 Frauen und 65 Kinder umkamen. Hierbei gelangte auch noch in kriegsverbrecherischer Weise weißer Phosphor zum Einsatz. Während danach aus Karzais Präsidentenpalast die ultimative For-
derung nach einem völligen Stopp der Luftangriffe auf afghanische Dörfer erscholl, kommentierte der Nationale Sicherheitsberater der USA, James Jones, man könne von den USA nicht erwarten, dass sie mit einer auf den Rücken gebundenen Hand kämpfen würden. Wie es nach dem Massaker bei Kunduz den Anschein hat, stößt in den Reihen der westlichen Verbündeten solche Parole von jenseits des Atlantiks durchaus auf Widerhall.

Was immer auch die nach diesem verheerenden Luftangriff jetzt eingeleiteten Ermittlungen und Untersuchungen ergeben mögen – eines sollte das nächtliche Drama im afghanischen Flussbett nun auch dem letzten Traumtänzer hierzulande klargemacht haben. Und das ist, was die von Gerhard Schröder mit Aplomb verkündete „Enttabuisierung des Militärischen“ in der Realität bedeutet: Nämlich massenhaft Tod, Verwundung und Verstümmelung von Menschen. Es ist an der Zeit, einzugestehen, dass sich mit solchen Mitteln Menschenrechte, Freiheit und Demokratie nie werden gewinnen lassen – weder für die Menschen in Afghanistan noch sonstwo auf der Welt. Für die demnächst neu gewählte Bundesregierung kann daher nur eine Devise gelten, und die lautet: Bring our Boys back Home!

Der Autor, der in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen vertritt, ist Oberstleutnant der Bundeswehr.


Münchner Lokalberichte 19 vom 17. September 2009, 4 f.

Überraschung

Jahr: 2009
Bereich: Internationales

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