Materialien 2010

Keine weitere Plattform für Thilo Sarrazins Thesen

Münchner Wissenschaftler/innen, Schriftsteller/innen und Kulturschaffende
Offener Brief an das Literaturhaus München

Sehr geehrter Herr Reinhard Wittmann,
Leiter des Literaturhauses München,

Mit äußerstem Befremden verfolgen wir, Münchner Wissenschaftler/innen, Schriftsteller/innen und Kulturschaffende, dass Sie als Leiter des Münchner Literaturhauses nach wie vor an einer Veranstaltung mit Thilo Sarrazin festhalten, und dies trotz zahlreicher bundesweiter prominenter Kritiken an seiner jüngsten Buchveröffentlichung „Deutschland schafft sich ab“. Wir sind nicht nur zutiefst empört darüber, dass Sie Thilo Sarrazin und seinen biologistisch-rassistischen, wissenschaftlich haltlosen Thesen eine Plattform bieten, sondern dass Sie ohne Distanz der Veranstaltung auch noch den Titel des Buches geben. Eine kritische und offene Diskussion mit Thilo Sarrazin bzw. über Fragen der Vielfalt in der Bevölkerung der Bundesrepublik bräuchte mindestens Experten und Expertinnen aus den damit befassten Feldern wie u.a. Migrations-, Ungleichheits- und Religionswissenschaften.

Als Münchner Bürger/innen mit und ohne Migrationshintergrund betrachten wir Ihre Veranstaltung mit Thilo Sarrazin als eine Verhöhnung all jener politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Bemühungen in dieser Stadt, ein soziales und inkludierendes Zusammenleben zu gestalten. Bei 35 Prozent Stadtbevölkerung mit Migrationshintergrund fragen wir uns, was Sie als öffentlich geförderte Institution mit einer solchen Diskussionsveranstaltung bezwecken. Sarrazins Thesen provozieren weniger, was für politische Debatten impulsgebend sein könnte, vielmehr machen sie eine differenzierte Diskussion unmöglich, da sie gefährliche rassistische und islamfeindliche Ressentiments schüren. Sarrazins Thesen spalten und wirken damit all den vielfältigen Integrationsbemühungen in dieser Stadt diametral entgegen. In einem Offenen Brief deutscher Musliminnen und Muslime an den Bundespräsidenten Christian Wulff unter dem Titel „Sie sind unser Präsident“ beschreiben die Unterzeichner/innen, wie sie das derzeitige gesellschaftliche Klima erleben und ihre Analyse ist erschreckend:

„… Wir erleben, wie sich Teile der Bevölkerung von anderen absetzen. Wie Minderheiten ausgedeutet und öffentlich als „Andere“ markiert werden. Die Tonlage ist oft genug nicht neugierig und gesprächsbereit, sondern aggressiv und diffamierend. Für Musliminnen und Muslime ist derzeit nicht einmal der Gang zum Zeitungshändler leicht, weil sie nie wissen, welche Schlagzeile, welches stereotype Bild sie dort erwartet. Auch in der Schule, bei der Arbeit und am Ausbildungsplatz kann es sein, dass einem Feindseligkeit entgegenschlägt.“

„Deutschland schafft sich ab“ ist eine Kampfschrift gegen die Einwanderungsgesellschaft, in der sich längst nach 55 Jahren neuerer Einwanderungsgeschichte ein multikulturelles Mit- und weitgehend problemloses Nebeneinander eingestellt hat, in der Vielfalt zum Credo städtischer Politik wurde, in der mittlerweile eine kleine migrantische Ober- und eine breitere Mittelschicht die Geschicke des Landes in Ökonomie, Kultur und zunehmend auch Politik mitgestalten und in der unzählige Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen das deutsche Wirtschaftswunder über Jahrzehnte möglich gemacht haben. Sarrazin erklärt nicht nur die Integrationsbemühungen der letzten Jahre für gescheitert, er warnt gar vor der Integration von als „wenig intelligent“ beurteilter Migrantengruppen v.a. aus dem arabischen Raum. Kaltschnäuzig fordert er dann auch den totalen Zuwanderungsstopp für in seiner Perspektive „unwerte“ Regionen: „ Die einzig sinnvolle Handlungsperspektive kann nur sein, weitere Zuwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika generell zu unterbinden .

Sarrazins Thesen sind aber mehr als eine Absage an die Einwanderungsgesellschaft und die fortgesetzten Integrationsbemühungen, die das jüngste „Jahresgutachten Einwanderung 2010“ des Sachverständigenrates Migration und Integration als weit besser als die Debatte darüber bewertet. Sein Buch ist auch als eine generelle Kampfansage an die ärmeren Schichten der Bevölkerung, an die neuen „Überflüssigen“ und „Abgehängten“, an die „Verlierer“ des neuen, auf Wissen und Dienstleistungen basierenden Wirtschaftsmodells. Seine Schriften sind ein Amalgam aus neoliberalem Verwertungsdenken mit pseudo-biologischen bevölkerungspolitischen Vorstellungen der natürlichen Auslese durch Vererbung, wenn Sarrazin beispielsweise schreibt: „Intelligenz ist aber zu 50 bis 80 Prozent erblich. Deshalb bedeutet ein schichtabhängig unterschiedliches generatives Verhalten leider auch, dass sich das vererbte intellektuelle Potenzial der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt.“ (S. 91/92).

Thilo Sarrazin behauptet denn auch, dass es „belegt ist (…), dass zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenzleistung ein recht enger Zusammenhang besteht“. (S. 93) Und er folgert: „Der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft sei deshalb vor allem davon abhängig, dass die ‚richtigen’ Menschen viele Kinder bekommen, um ihre Intelligenz zu vererben.“ Diese darwinistische Position erinnert an die Eugenik früher Rassen- und Zuchtlehren (Lebensborn lässt grüßen), die zu Zwangssterilisationen und zur millionenfachen Auslöschung des als »unwert« deklarierten Lebens führte.

Auch seine unerträglichen und zutiefst falschen ‚philosemitischen’ Auslassungen, etwa zur „durchschnittlich höheren Intelligenz von Juden“ machen die krude und unwissenschaftliche pseudo-Biologisierung gesellschaftlicher Fragen deutlich, die Sarrazin betreibt. Diese Dummheit wird weder den Lebenswissenschaften – Biologie, Evolutionsdenken usw. – gerecht noch und erst recht nicht den Sozialwissenschaften, die sich seit Jahrzehnten differenziert, dabei durchaus kontrovers, mit Fragen von Religion, Kultur, Ethnizität, Migration, Inklusionspolitik, Bildung usw. beschäftigen.

In seiner besonderen Ablehnung und Diffamierung von Menschen islamischen Glaubens und Migranten und Migrantinnen aus dem arabischen Raum verschränken sich bei Sarrazin beide Argumentationsmuster zu einem erschreckend offenen biologistischen Rassismus, wenn er beispielsweise schreibt: „ Die kulturelle Fremdheit muslimischer Migranten könnte relativiert werden, wenn diese Migranten ein besonderes qualifikatorisches oder intellektuelles Potential verhießen. Das ist aber nicht erkennbar. Anzeichen gibt es eher für das Gegenteil […] So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen […] eine erhebliche Rolle.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bewertet das Buch dann auch in einer Besprechung am 26. August 2010 als ein „antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage“.

Das Buch besteht jedoch nicht nur inhaltlich aus einer Ansammlung sich ständig wiederholender rassistisch-biologistischer Behauptungen besteht, die mit den Ängsten und der Verunsicherung von Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft spielen. Vielmehr handelt es um eine unsachliche Polemik, die mit dem Feuer spielt und doch so tut als würde sie sich ganz sachlich auf wissenschaftliche Expertise und Statistiken stützen. Als Wissenschaftler/innen weisen wir eine derartige Zahlenspielerei zu reißerischen Zwecken zurück. So schreibt das Deutsche Institut für Menschenrechte mit Sitz in Berlin in seiner Stellungnahme:

„Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert. Dies etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung mit grotesken Thesen einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie zu seiner Weltsicht passen.“ (www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellungnahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin__02_09_2010.pdf)

Und in einem Brief vom 2. September 2010 an die Politikwissenschaftlerin Dr. Naika Foroutan (siehe Sendung mit Maybritt Illner vom 2. September 2010) erklärt selbst der Berliner Polizeipräsident: „Insgesamt ist nach dem derzeit hier vorliegenden Material nicht ersichtlich, auf welche Zahlen Herr Sarrazin sich konkret bezog. In einem Interview, dass in der Berliner Morgenpost vom 29. August 2010 abgedruckt wurde, erklärt er: ‚Ich habe an anderer Stelle zitiert, dass in Berlin 20 Prozent aller Gewalttaten von 1.000 türkischen und arabischen Intensivtätern begangen werden.’ Diese zitierte Aussage von Hr. Sarrazin ist weder bei enger Auslegung der Nationalitäten noch bei weiterer Auslegung der Staatszugehörigkeit mit Zahlen der offiziellen PKS oder den geschäftsstatistischen Erhebungen zu Personen in Täterorientierten Ermittlungsprogrammen zu belegen.“

Wir sind zutiefst besorgt über das gesellschaftliche Klima, welches die Debatte über das Buch und die Thesen Sarrazins in diesem Lande verursacht hat. Angesichts der verheerenden Folgen rassenbiologischer und eugenischer Lehren im Dritten Reich, und angesichts des Wissens darum, wie schnell die so genannte Asyldebatte in den 1990er Jahre in rassistisch und national begründete Pogrome umschlug, warnen wir eindringlich davor, dieser neuen Debatte erneut Vorschub zu leisten.

Als Wissenschaftler/innen vieler Disziplinen, als Schriftsteller/innen und Künstler/innen sind wir zutiefst beschämt ob dieser gesellschaftlichen Entwicklung. Wir sind schockiert, dass eine solch ehrbare und niveauvolle Einrichtung wie das Münchner Literaturhaus Thesen wie denen Sarrazins einen Raum zur Debatte organisiert, ohne diese sichtbar kritisch zu rahmen.

Nach all diesen inhaltlichen und wissenschaftlichen Bedenken und Einwänden fragen wir uns um so mehr, warum das Münchner Literaturhaus gerade solchen Ausführungen eine Bühne gibt, die unsachlich und falsch sind, inhaltlich ganze Bevölkerungsgruppen diffamieren, rassistische Ressentiments und Antiislamismen schüren und Auslesevorstellungen im neuen neoliberalen Gewand salonfähig machen. Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Äußerungen und Vorschläge Sarrazins sich jenseits des Grundgesetzes und der von Deutschland ratifizierten UN-Anti-Rassismus-Konvention bewegen:

„Seine Vorschläge für Änderungen in der Zuwanderungspolitik sind weder mit international gültigen Menschenrechten vereinbar noch mit dem deutschen Grundgesetz. Sie bewegen sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung.“ (Deutsches Institut für Menschenrechte; www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Stellungnahmen/stellungnahme_zu_aussagen_v_thilo_sarrazin__02_09_2010.pdf)

Wir fordern Sie daher auf, dem Beispiel Hildesheims zu folgen und die Veranstaltung mit Herrn Sarrazin abzusagen. Denn seine Thesen sind rassistisch, wissenschaftlich nicht fundiert, und destruktiv! Wir sehen mit großer Sorge, wie die enorme mediale Debatte rund um Sarrazin funktioniert: sie spielt Sarrazin und seinen Äußerungen selbst bei distanzierter Haltung immer wieder in die Hände! Daher schließen wir uns den Warnungen des Deutschen Institut für Menschenrechte an, Sarrazin und seinen Thesen noch mehr Raum einzuräumen:

„Nicht wenige Kommentatoren verurteilen seine Diffamierungen, kommen aber zu dem Schluss, Sarrazin spreche im Kern die eigentlichen Probleme an. Damit spielen sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt direkt in die Hände: Sarrazin inszeniert sich als Provokateur, der Tabus bricht. Damit löst er vor allem Reaktionen aus, die sich gegen den Ton und die Schärfe seiner Äußerungen wenden. Wenn nach der Debatte dieser Wochen dann seine rassistischen Thesen und Behauptungen auf der Grundlage unwissenschaftlicher und willkürlicher Interpretation von Zahlen als im Kern richtig stehen bleiben, hat Sarrazin sein Ziel schon erreicht.“

Wir würden es dagegen begrüßen, wenn Sie – ernsthaft interessiert an Themen der Einwanderungsgesellschaft – eine sachliche Diskussion über Rassismus und die Voraussetzungen einer inklusiven, sozial gerechten Gesellschaft in Deutschland in Ihrem Haus führen wollen und stehen hierfür auch jederzeit zur Verfügung.

ErstunterzeichnerInnen:
Name und Funktion bitte angeben
und mailen an s.hess@vkde.fak12.uni-muenchen.de.


Email eingegangen am 26. September 2010, GG.

Überraschung

Jahr: 2010
Bereich: AusländerInnen

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